Bis in die 1970er-Jahre konnten Kinder Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen werden. Kinder wurden ihren Eltern weggenommen oder von den Eltern selbst weggegeben. «Das System der Fremdplatzierung von Kindern gab es während Jahrhunderten», sagt die Historikerin Loretta Seglias. Dass die Kinder in einem landwirtschaftlich geprägten Land auch auf Höfen untergebracht wurden, war deshalb eine Tradition, die bis ins 20. Jahrhundert weitergeführt wurde.

Ausserdem «waren die Landwirte vor der Mechanisierung der Landwirtschaft auf die Arbeitskräfte angewiesen», sagt Luzius Mader, stellvertretender Direktor des Bundesamts für Justiz und Delegierter des Bundes für Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.


Auch Markus Ritter, Präsident des Schweizer Bauernverbands (SBV), räumte an der Gedenkveranstaltung für Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen am 11. April 2013 ein, dass die Landwirtschaft mit den Verdingkindern einen Teil Geschichte mitgeschrieben habe.

Man sei sich der daraus resultierenden Verantwortung bewusst, sagte Ritter damals. Wie Ritter ausführte, indem man Anteil nehmen wolle am Schicksal der Betroffenen. «Offen und ehrlich bekunden, dass wir verstehen, dass Kinder, die verdingt wurden, das ganze Leben an diesem Schicksal tragen.»

Runder Tisch


Nach diesem Gedenkanlass wurde ein runder Tisch eingesetzt, um die umfassende Aufarbeitung von Leid und Unrecht zu begleiten. Vertreten sind neben elf Opferverbänden und Direktbetroffenen auch Vertreter der Kantone, Städte, Gemeinden, Kirchen und die Wissenschaft sowie verschiedene Organisationen, unter anderem auch der Bauernverband.


Wiedergutmachung auch in finanzieller Form


Seit der Unternehmer Guido Fluri mit seiner Stiftung am 19. Dezember 2014 die Wiedergutmachungsinitiative eingereicht hat, spricht man nun von Wiedergutmachung. Denn die Initiative verlangt eine Wiedergutmachung für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Dafür soll zum einen dieses Kapitel der Schweizer Geschichte wissenschaftlich aufgearbeitet werden.

Andererseits soll ein Fonds über 500 Millionen Franken geschaffen werden. Daraus sollen schwer betroffene Opfer eine Wiedergutmachung erhalten, heisst es in der Erklärung zum Text der Volksinitiative. Als am 13. Januar 2015 die Initiative als offiziell rechtskräftig bestätigt wurde, hat der Bundesrat einen Tag später bereits einen indirekten Gegenvorschlag präsentiert: Man wolle 250 bis 300 Millionen Franken in den Fonds speisen, nicht 500 Millionen, wie das die Initianten fordern.

An der wissenschaftlichen und politischen Aufarbeitung hält auch der Bundesrat fest. Bis im Sommer 2015 soll ein vernehmlassungsfähiger Entwurf erarbeitet werden. Für Loretta Seglias ist das schnelle Vorgehen der Bundesbehörden ein klares Zeichen dafür, dass man möglichst schnell vorwärts machen will, «damit möglichst viele noch von den Massnahmen profitieren können», wie sie sagt.

Dass es finanzielle Unterstützung für die Opfer braucht, scheint unbestritten. «Man ist sich am runden Tisch einig, dass es auch finanzielle Leistungen braucht», sagt Luzius Mader. Man könne nicht nur ein Lippenbekenntnis abgeben, ist Mader überzeugt. Man müsse zugunsten der Opfer auch gewisse finanzielle Leistungen vorsehen, sofern sie dies wünschen.

Bauernverband zahlt nicht

Bis jedoch die notwendige gesetzliche Grundlage für finanzielle Leistungen besteht, dürfte es noch etwas dauern. Deshalb wurde ein Soforthilfefonds eingerichtet, der als Übergangslösung bescheidene Beiträge entrichten könne, sagt Luzius Mader. Auch bei der Finanzierung des Soforthilfefonds will sich der SBV nicht beteiligen, was Mader bedauert.

Peter Kopp vertritt den SBV am Runden Tisch. «Die Verdingkinder sind dem Bauernverband nicht gleichgültig», sagt er. Deshalb habe man sich auch am Gedenkanlass beteiligt und für das auf den Bauernhöfen erlittene Leid entschuldigt.

Der Bauernverband unterstütze insbesondere die wissenschaftliche Aufarbeitung und einen Härtefallfonds für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Für die Äufnung des Fonds ist gemäss Kopp die öffentliche Hand zuständig. Für Mader ist diese Haltung eine ungenutzte Chance, mit einer kleinen Geste zu anerkennen, dass viele Bauern von der damaligen Praxis auch profitiert haben. Dass bäuerliche Parlamentarier zwar im Unterstützungskomitee der Initiative seien, gleichzeitig aber keinen finanziellen Beitrag leisten wollen, zeuge von einer gewissen Doppelmoral.


Eine andere Zeit, na und?


Man müsse berücksichtigen, dass damals andere Zeiten geherrscht hätten, heisst es beim Bauernverband. «Doch dieses Argument ist zu einfach», findet Loretta Seglias. Und sie findet, dass der Begriff Wiedergutmachung zu wenig weit greife. Sie spricht lieber von einer gesellschaftlichen Aufarbeitung. «Nur in einer gesellschaftlichen Aufarbeitung hat man die Möglichkeit, alle Aspekte zu diskutieren.»


Wer Schuld hat, spielt keine Rolle mehr


Wie Seglias sagt, könnten nur die Opfer definieren, was denn Wiedergutmachung für sie überhaupt bedeutet. Auch Luzius Mader findet den Begriff der Wiedergutmachung falsch. Er spricht von einer Anerkennung des erfahrenen Leids.

Ausserdem plädieren beide dafür, sich von der Täter-Opfer-Betrachtungsweise zu lösen. «Juristisch gesehen sind die Fälle verjährt», sagt Mader. «Schadenersatz gerichtlich einzufordern ist deshalb aussichtslos», fährt er fort. So versteht er auch die ausbezahlten Beiträge als Symbol dafür, dass die Opfer der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen endlich anerkannt würden. Denn auch das Geld kann nichts ungeschehen machen. «Bei der Aufarbeitung der Geschichte wäre jede Person, jeder Verband und jede Insitution ein wichtiges Puzzlestück», findet Loretta Seglias.

Neben der wissenschaftlichen Aufarbeitung wünscht sie sich deshalb, dass auch innerhalb der einzelnen Organisationen die Auseinandersetzung mit der Geschichte stattfindet. Man müsse die Mechanismen und Verantwortlichkeiten klären und soll auch die Profiteure benennen. Bei der Aufarbeitung zentral sei es, sowohl die Spielräume der einzelnen als auch die Rolle der Gesellschaft aufzuzeigen.

Für Luzius Mader und Seglias ist deshalb die vorbehaltlose, wertfreie Aufarbeitung der Geschichte die Verantwortung, die die Gesellschaft heute zu tragen habe. «Am Ende ist jeder selbst gefordert, sich berühren zu lassen, sich seine eigene Meinung zu bilden», sagt Seglias.

Hansjürg Jäger