Die Adresse irritiert bei einer Bergführerin; Annina Reber lebt mitten in der Stadt Zürich. Die Wohnung selbst zeigt aber, was der 43-Jährigen wichtig ist: ihre Familie und Berge. Zwischen Kinderzeichnungen und Stundenplänen hängen Bergbilder und Plakate.
Klettern begeistert Annina Reber seit ihrer Kindheit in Langnau im Emmental. «Bergführerin war schon nach der Matura mein Traumberuf», sagt sie. Doch Architektur interessierte sie auch und ihre Eltern überzeugten sie, erst mal «was Rechtes» zu studieren. Sie schrieb sich an der ETH in Zürich ein.
Die Faszination der Berge liess sie aber nicht los. Parallel zum Studium absolvierte sie daher die dreijährige Bergführer-Ausbildung. «Das Studium litt darunter», erinnert sie sich. Doch sie schloss es ab und absolvierte ein Architektur-Praktikum. Dabei merkte Annina Reber endgültig, dass es für sie nicht stimmt, tagtäglich in einem Büro am Computer zu sitzen.
Freude durch Leidenschaft
Sie entschied sich, ganz auf ihren eigentlichen Traumberuf Bergführerin zu setzen. Anfängliche Zweifel verschwanden, als sie durch Empfehlungen von Berufskollegen schnell in der Branche Fuss fasste. Von da an hat sie sich nicht mehr gefragt, ob ihr Entscheid richtig war. «Wenn man etwas mit Leidenschaft macht, dann ist es schön.»
Inzwischen ist Annina Reber seit 13 Jahren Profi-Bergführerin und etabliert. Sie bietet ganz unterschiedliche Kletter-, Hoch- und Skitouren an. Die Jahreszeiten bestimmen das Programm. Im Januar startet sie mit Lawinenpräventions- und Rettungskursen sowie Skitechnik für Tourenfahrer. Dann kommen die Tourenwochen, gefolgt von den Skihochtouren auf die hohen Gipfel im Frühling. Die Hochtouren-Saison startet inzwischen bereits Anfang Juni. «Da zeigt sich der Klimawandel.» Sie dauert bis September. Anschliessend bietet sie bis in den Oktober Klettertouren an.
Und im Spätherbst? «Die Zeit nutzen mein Mann und ich fürs private Sportklettern. Zudem nehmen wir an Skitourenrennen teil.» Dabei absolviert man mit einer sehr leichten Touren-Spezialausrüstung und in möglichst kurzer Zeit vorgegebene Parcours abseits der Pisten. Gefragt sind Kondition und Auf- und Abstiegstechnik.
Familienzeit
Annina Reber ist rund 60 Prozent als Bergführerin tätig. Die Betreuung der beiden Töchter Ev (9) und Luisa (6) teilt sie sich mit Ehemann Boris, der ebenfalls mit einem 60-Prozent-Pensum als Programmierer arbeitet. «So kommen wir ohne Fremdbetreuung aus. Allerdings springen immer mal wieder die beiden Grossmütter ein, wenn es mit den Terminen nicht ganz aufgeht.» Der Kinder wegen arbeitet sie nur in der Schweiz. Später kann sie sich vorstellen, auch im Ausland unterwegs zu sein. «Doch erst, wenn die Mädchen grösser sind. Ich möchte mit einem guten Gefühl gehen können.» Auf Evs ausdrücklichen Wunsch habe sie mit ihr auch schon kleine Touren unternommen. «Mit Übernachten in einer Hütte, Klettergstältli und Seil, das gehört für Evs Verständnis von einer Tour zwingend dazu.»
Weltweit nur 250 Bergführerinnen
Nur zwei Prozent der Bergführer sind weiblich. Im internationalen Bergführerverband sind rund 250 Frauen registriert, im Schweizer Verband rund 40. «Dabei ist das durchaus ein Frauenberuf.» Für Annina Reber spielt das Geschlecht am Berg keine Rolle, gerade auch bei ihr selbst. Warum weiss sie nicht so recht. «Entweder weil ich es nicht wahrnehmen will und es mir egal ist. Oder vielleicht, weil ich anders bin als die Mehrheit und das ignoriere.» Bei der Bergführer-Ausbildung und Prüfung gibt es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. «Wir bringen die gleiche Leistung.» Zwar hätten Männer mehr Kraft, doch das können Frauen mit Technik ausgleichen.
Hin und wieder käme es vor, dass Männer explizit eine Bergführerin wünschen. Als Grund hörte Annina Reber, dass sie sich bei einer Frau besser aufgehoben fühlen und auch mal über Befindlichkeiten sprechen können. Sie trauen sich eher, es offen anzusprechen, wenn sie sich nicht ganz wohl fühlen oder wenn sie unsicher sind, ob sie das angepeilte Tagesziel schaffen.
Wie zugänglich ein Bergführer für solche Gespräche sei, hängt aber aus ihrer Sicht vom Typ Mensch ab, egal ob Mann oder Frau. Und überhaupt: «Wie in der Wirtschaft, funktionieren auch am Berg gemischte Teams am besten.» Nur ganz, ganz selten käme es übrigens vor, dass Frauen explizit eine Bergführerin wählen.
Anspruchsvolle Ausbildung
Die dreijährige Bergführer-Ausbildung war anspruchsvoll. Zum Ausbildungs- und Prüfungsprogramm gehören Module in allen Bergsportdisziplinen, in Natur und Umwelt, Betriebsführung, Kommunikation und Medizin. Dazu kommt ein mehrtägiges Praktikum. «Bei meinen ersten eigenen Touren fand ich die Kommunikation sehr herausfordernd. Einem Teilnehmer sagen, dass er umkehren muss, war am Anfang nicht einfach, aber notwendig. Sonst steht man plötzlich mit jemandem auf einem Grat, der nicht mehr vor und zurück kann.»
Da es um die Sicherheit der ganzen Gruppe geht, braucht es rasch klare Entscheide, auch wenn sie hart erscheinen. Im Idealfall kommt es gar nicht soweit: Annina Reber versucht jeweils, vor einer Tour herauszufinden, wie fit die Teilnehmer sind, oder sie macht mit ihnen eine Testtour. «Die meisten schätzen ihre Fähigkeiten sehr gut ein.» Trotzdem musste sie schon Teilnehmer retour schicken, etwa weil sie riesige Blasen an den Füssen hatten, die sich entzünden können. «Manchmal stimmen die Ansprüche an sich selbst nicht mit der Realität überein.» Doch in der Gruppe müsse man auf alle schauen, nicht nur auf die Schwachen.
Mensch, Wetter, Gelände
Bei den Standard-Situationen hat Annina Reber inzwischen viel Routine und bleibt in der Kommunikation gelassen Noch immer gibt es Touren, bei denen sie Herzklopfen bekommt. «Bei der Planung einer Tour sind die Verhältnisse, das Gelände und der Mensch die drei wichtigen Komponenten. Doch vor Ort kann es ganz anders sein als geplant.» Die vielen unbekannten Faktoren machen ihre Arbeit spannend. Das Unbekannte. Das Neue. An Orten arbeiten, an denen der Weg noch gar nicht oder nur wenig gespurt ist. Die Präsenz, gerade in heiklem Gelände oder am kurzen Seil. «Da muss ich über Stunden sehr konzentriert sein.»
Ja, natürlich gäbe es Risiken. Annina Reber verlangt von ihren Teilnehmern viel Eigenverantwortung, Zudem muss sie vorausschauend arbeiten und eine Gefahr sofort erkennen. «Das heisst konkret: Das
Risiko senken oder verzichten.» Eine andere Route wählen oder abbrechen. Sie weiss: Der Verzicht wird akzeptiert, weil er begründet ist, die Autorität kommt an. «Wenn nötig, gebe ich klare Anweisungen.»
Entspannung nach der Tour
Auf die Frage nach ihrem Lieblingsgebiet, mag sich Annina Reber nicht festlegen. Oder doch: «Immer der neue Berg. Dort, wo ich noch nie war.» Auch in der Schweiz gäbe es Gebiete, die wenig begangen sind, wo man auf einer Tour tagelang kaum einen Menschen trifft. Das schätzen die Teilnehmer ihrer Touren. «Ich suche Routen, auf denen es noch wenig Bewegungsspuren hat, wo man sich den Weg noch suchen muss.»
Annina Rebers Freude an den Bergen und ihrem Traumberuf ist spürbar. Zu den schönsten Momenten einer Tour gehört für sie «mit den Gästen die Momente teilen, die für alle stimmen.» Ihre Arbeit erfordert über Tage hinweg viel Präsenz und Konzentration. Sind am Ende alle wieder gesund im Tal angekommen, kann sich auch die Bergführerin entspannen. «Nach einer Tour bin ich platt. Manchmal esse ich noch am Bahnhof einen ganzen Sack Pommes Chips. Und kaum sitzen wir im Zug, schlafe ich ein.»
Weitere Informationen:
www.bergfuehrerin.ch
Pionierinnen
Der Schweizer Bergführerverband zählt 1200 Bergführer und 40 Bergführerinnen. Als erste Frau in der Schweiz machte die Freiburgerin Nicole Niquille im Jahr 1986 das Diplom als Bergführerin und erklomm die höchsten Gipfel der Welt. Im Jahr 1994 geriet sie beim Pilzesammeln in einen Steinschlag und wurde schwer verletzt. Nicole Niquille kämpfte sich zurück ins Leben und gründete eine Stiftung, die am Fusse des Mount Everest ein Spital betreibt.