Frau Meinen, erleben wir alle beim Sterben den berühmten «Film», der uns das Leben noch einmal vor Augen führt?
Der Film gehört zu einem unerwarteten, plötzlichen Tod. Bei einem natürlichen Sterben ist das nicht so. Aber es findet eine, von Mensch zu Mensch völlig unterschiedliche, Auseinandersetzung mit den Lebenssituationen statt. Das geht verschieden lange. Zeitdimensionen lösen sich während des Sterbens auf. Im Verständnis der noch Lebenden ergeben sich manchmal in kürzester Zeit völlige Umkehrungen. Das kann so weit gehen, dass sich ein Mensch komplett neu definiert. Das ist nach wie vor sehr geheimnisvoll.
Was geschieht während des Sterbens?
Sterbeforscherin Monika Renz hat es einfach ausgedrückt: «Im Sterbeprozess gibt es ein Davor, ein Hindurch und ein Danach.» Davor: Wir regeln noch etwas, sprechen, weinen, trauern. Hindurch: Wir sind allein, müssen hindurch. Vergleichbar mit dem Kind, welches durch den Geburtskanal geboren wird. Das ist meist mit Angst verbunden. Für Angehörige ist es oft schwer, sie nehmen diese Angst wahr. Hier hilft das ruhige Dableiben. Danach: Der absolute Frieden kommt, man schliesst die Augen und ist angekommen in der Weite.
Was nehmen Sterbende noch wahr?
Auch wenn Sterbende aktiv keinen Kontakt mehr suchen, sind sie wahrnehmungsfähiger, als wir glauben. Sie gehen von uns. Wir sehen sie, sie nehmen uns wahr, sind aber bereits unterwegs. Sie werden dünnhäutiger, hellsichtiger und hellhöriger. Selbst schwersthörige Sterbende bekommen am Schluss noch alles mit, das geflüstert wird.
Wie können Angehörige dem Sterbenden helfen?
Helles Licht und laute Geräusche sind für Sterbende unangenehm. Man sollte sie auch nicht mehr ständig berühren. Im Sterbeprozess sollten wir nicht mehr stören. Jetzt ist es besser zu schweigen – reden nützt nichts mehr. Der Sterbende muss alleine vorwärtsgehen. Seine Dimensionen lösen sich auf, Worte werden Klang und ihre Bedeutung unwichtig. Ein Kinder- oder Wiegenlied summen oder ein feines Klangspiel erklingen lassen, das bringt Weite und Leichtigkeit, die ein Sterbender braucht. Er hat Angst, weiss nicht, was ihn erwartet. Meist ist der einzige Satz, den wir Sterbenden mitgeben können: «Gehe mutig einfach weiter ins Licht.»
Weshalb fürchten uns so vor dem Tod?
Uns ängstigt meist der unzeitige, plötzliche Tod. Wir werden damit konfrontiert, dass wir nicht allmächtig sind. Daraus resultiert oft auch die Angst vor dem Tod. Er setzt uns Grenzen und kommt über uns, ohne dass wir endlos etwas dagegen tun können. Es ist ähnlich wie die Geburt: Plötzlich sind sie oder die Partnerin schwanger, das Leben kommt und das ist etwas Grösseres, das wir nicht erklären können. Genau so ergeht es uns mit der Trauer, sie lässt in uns etwas geschehen, tut etwas, was wir nicht beeinflussen können.
Unsere Gesellschaft verdrängt den Tod. Hat das Konsequenzen?
Ja, es ist wesentlich, wie eine Gesellschaft mit ihren Sterbenden und Toten umgeht. Nicht jetzt, aber auf Dauer. Wir verlieren allmählich wertvolle Erfahrungen. Tod und Trauer sind bedeutsame Ereignisse in einem Leben. Wir müssen sie gestalten und begehen. Wenn sie weder Raum erhalten noch begangen werden, wirken sie manchmal über Generationen. Was man verdrängt, macht krank. Mir sind Todesfälle bekannt, die dreissig Jahre später noch auf jene gewirkt haben, die sich nicht verabschieden durften.
Warum sind Sie Bestatterin geworden?
Stirbt ein Mensch, steht die Welt einen Moment lang still und wird nie mehr so sein wie vorher. Ich beobachte, dass sich das Bestattungswesen in Richtung Entsorgungswesen entwickelte. Männer in Anzügen nehmen uns alles ab und fordern uns auf, einfach weiterzuleben. Ich wollte dem etwas entgegensetzen. Mir wurde klar, dass ich nur als Bestatterin Einfluss darauf nehmen kann, wie wir mit den Verstorbenen umgehen. Ich ‹inszeniere› keine Beerdigung, ich will seelsorgerisch und ganzheitlich handeln. Dem Tod und dem Abschiednehmen wohnt auch etwas Schönes inne, wenn man wirklich damit in Kontakt kommt. Ich zeige den Menschen, wie wichtig und tröstend die Zeit zwischen Tod und Aufbahrung ist und führe sie beim Abschiednehmen im Seelentempo. Auch in der Trauer und im Entsetzen gibt es erfüllende Momente.
Wie bereiten Sie sich vor?
Ich verbinde mich mit dem Leben, mit der Erde, mit Gott. Ich werde mir bewusst, dass ich mich nun in eine Situation mit Menschen begebe, die von etwas Grösserem betroffen sind. Wir wissen nie, was wir antreffen. Deshalb reden meine Mitarbeiter und ich auf der Anfahrt zu einem Toten nicht miteinander. Vor dem Haus sammeln wir uns und sind einen Moment still.
Wie sorgen Sie für sich?
Ich meditiere regelmässig und treffe monatlich eine Psychotherapeutin. Mir ist wichtig, dass ich mit dem grösseren Ganzen verbunden bin. Die Natur ist deshalb eine starke Kraftquelle: die Nacht, die Sterne, der Regen, das Gewitter. Ich gehe bewusster mit meinem Hund spazieren, nehme den Wald, den Boden, die Luft und den Himmel viel intensiver wahr. An Tagen, bei denen ich mit Toten Körperkontakt hatte, dusche ich viel länger. Nicht weil es gruselig ist, es geht mehr darum, meine Aura zu reinigen. Ich «büschele» mich wieder zurecht, ähnlich wie ein Huhn, das sich schüttelt.
Wie gehen Sie mit den Gedanken an den eigenen Tod und den von Angehörigen um?
Ich fürchte mich nicht vor meinem Tod, bin neugierig, was geschehen wird und hoffe sehr, dass ich ihn
bewusst erleben darf. Aber ich habe Angst davor, eines meiner Kinder oder meinen Partner zu verlieren. Ich hoffe, dass ich dann Menschen habe, die mich begleiten, wie ich heute andere begleite.
Letzte Dinge in sieben Schritten
Was kann uns Lebenden helfen, die Angst vor dem Tode auszuhalten?
Was Angst macht, verdrängt man gerne; Verdrängtes macht wiederum oft Angst. Die Bestatterin und Theologin Ursula Meinen-Wagner aus Utzenstorf rät, sich mit dem Sterben auseinanderzusetzen, um anschliessend wieder das Leben zu feiern. Das bedeutet nicht, dass wir überall das Negative, Endliche sehen müssen. Aber wir können im Alltag üben, das Leben als endlich zu erkennen und dessen Wert zu schätzen
Mehr zum Thema finden Sie im PDF "sieben Schritte für die letzte Reise" zum Herunterladen.
Weitere Informationen:
www.begleiten-bestatten.ch
Zur Person
Ursula Meinen (58) war 27 Jahre lang reformierte Gemeinde-Pfarrerin. Sie absolvierte Zusatzausbildungen in Notfallseelsorge, Systemischer Familienseelsorge und Familienaufstellungen und erwarb ein Diplom in angewandter Spiritualität an der Universität Zürich. Im Herbst 2013 gab die Mutter vier erwachsener Kinder die sichere Anstellung auf und gründete ihr Atelier «leben, begleiten, bestatten». Seither begleitet sie, als selbstständige, religionsunabhängige Bestatterin mit zwei Teilzeit-Mitarbeitern, Menschen bei Tod und Trauer.
«Ich erkläre den Menschen, dass man mit dem Tod umgehen kann und versuche, sie nach ihren Möglichkeiten einzubeziehen.» Mit einer Bestattung sei sie zufrieden, wenn ich sehe, dass die Angehörigen gut getröstet durch die schwierige Zeit gefunden haben. Ursula Meinen bietet, neben Sterbebegleitung und Bestattungsdienst, auch Möglichkeiten der Unterstützung an, wie Wanderungen für Trauernde, Gedenk-Rituale in der Natur an Allerheiligen, monatliche Trauer-Cafés und Klang-Therapien.