Auf der einen Seite stehen die Unternehmer der zweiten Verarbeitungsstufe, die im internationalen Wettbewerb stehen und zudem direkt vom Einkaufstourismus und der sinkenden Wettbewerbsfähigkeit ihrer Lieferanten betroffen sind. Sie wollen insgesamt weniger Grenzschutz und eine Deregulierung der Wirtschaft. Auf der anderen Seite stehen die Landwirte und die Verarbeiter auf der ersten Stufe, die kaum mehr wissen, wie sie dem Preis- und damit auch dem Kostendruck begegnen sollen.
Das Resultat dieser unterschiedlichen Ausgangslagen ist ein politischer Kleinkrieg, bei dem es im Kern um eine einzige Frage geht: Verkraftet die Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft eine weitere Grenzöffnung? Die einen sagen, dass bessere Marktzugänge langfristig das Überleben sichern. Die anderen halten es mit Matthias Binswanger und sagen, dass freie Märkte für landwirtschaftliche Produkte nicht zu «befreiten Bauern, sondern zur Befreiung der Schweiz von den Bauern» führe.
Tatsächlich aber sitzen alle im selben Boot. Und dieses Boot heisst Schweiz, ist extrem teuer und erst noch umgeben von der weltweit zweitgrössten Volkswirtschaft, der EU. Und allen Wünschen nach mehr Unabhängigkeit zum Trotz wächst die gegenseitige Abhängigkeit. Auch für die Land- und Ernährungswirtschaft. So wird beinahe ein Viertel der in der Schweiz produzierten Milch im Ausland abgesetzt – als Käse, Babynahrung und teilweise auch als (billige) Butter. Umgekehrt kommen alleine aus Deutschland jährlich etwa 17 000 Tonnen Käse in die Schweiz. Die wertmässige Handelsbilanz fiel auch im vergangen Jahr positiv aus, wie der Milchstatistik zu entnehmen ist.
Den internationalen Warenverkehr kann man gerade im Lebensmittelbereich kritisch sehen: Dumping von Lohn, die Ausbeutung von Mensch und Umwelt und damit verbunden die Zerstörung von Existenzen nördlich und südlich des Äquators können die Folgen sein. Allerdings hat der internationale Warenhandel und die mit der Industrialisierung verbundene Arbeitsteilung ein paar entscheidende Fakten geschaffen: Noch nie haben nämlich so wenige Landwirte so viele Menschen versorgt: Global sind es etwa 500 Millionen Bauern, die für gut 7,5 Milliarden Menschen Essen produzieren. In der Schweiz produzieren gut 50 000 Bauern genug Nahrung, um damit etwa die Hälfte der Schweizer Bevölkerung zu ernähren. Sie machen das mit weniger Land, umweltbewusster und effizienter als je zuvor.
Dasselbe gilt für die Nahrungsmittelindustrie: Noch nie konnten nämlich so wenige Unternehmen so viele Menschen mit sicheren und gesunden Nahrungsmittel versorgen. Noch nie konnte so bedenkenlos konsumiert werden, wie das heute der Fall ist. Auch das ist eine erwähnenswerte Leistung. Der Preis dieser Entwicklung ist die Abhängigkeit. Den über 50 000 Landwirten stehen in der Schweiz nämlich nur wenige, dafür marktmächtige und vertikal integrierte Unternehmen gegenüber.
Einerseits sind es die Konsumenten, die von den Erzeugnissen der Nahrungsmittelindustrie abhängig sind. Andererseits sind es die Bauern, die von der Nahrungsmittelindustrie abhängig sind. Das stimmt für die Geflügelbranche, wo der Landwirt als Investor und Lohnmäster das gesamte Preisrisiko trägt. Das stimmt zu weiten Teilen im Kartoffelbau, im Gemüsebau, bei den Rindfleischproduzenten und den Schweinemästern. Sie alle tragen die Preisrisiken, während die vor- und nachgelagerte Industrie die Margen mehr oder weniger sichern kann. Nur im Milchmarkt ist es etwas anders: dort sind es zwar die Molkereien und der Detailhandel, die ihre Forderungen durchdrücken.
Aber auch die Produzenten muss man nicht lehren, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Ironischerweise ist gerade der am stärksten liberalisierte und politisch umstrittenste Markt für die Produzenten am fairsten. Dass das so ist, zeigt die Statistik zum Anteil des Produzentenpreises am Konsumentenfranken. Bei den Milchprodukten kommen von jedem Konsumentenfranken 43,7 Rappen bei den Bauern an; beim Warenkorb Fleisch sind es 32,9; bei den Eiern sind es 44,8, bei den Früchten 41,8 und beim Gemüse 40,1 Rappen (alle Zahlen für 2016). Hier gibt es zwei wichtige Anmerkungen: die Branchen sind nicht durchgängig vergleichbar, die Logistik für Früchte und Gemüse ist um einiges einfacher und günstiger als jene von Fleisch und Milch.
Zweitens ist in allen Branchen der Anteil der Produzenten am Konsumentenfranken in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gesunken. Das Beispiel Milchmarkt deutet aber darauf hin, dass Branchen mit weniger Grenzschutz wettbewerbsfähiger und fairer organisiert sind.
Der politische Kleinkrieg lenkt damit von der wirklich relevanten Frage ab: Wie soll die Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft in zehn, zwanzig oder dreissig Jahren aussehen? Und wie werden die Landwirte mit ihren Abnehmern zusammenarbeiten und sich im internationalen Umfeld behaupten? Darüber wird leider nicht diskutiert.
Hansjürg Jäger