Der Schweizer Wald muss verschiedene Funktionen erfüllen. Er ist ein Lieferant von Holz, bietet Schutz vor Lawinen oder Murgängen, ist das Zuhause einer vielfältigen Fauna und Flora und nicht zuletzt ist der Wald auch Rückzugsmöglichkeit und Naherholungsraum für den Menschen. Diesen unterschiedlichen Ansprüchen gerecht zu werden, erfordert ein stabiles Gleichgewicht, das aber in Gefahr ist.
Die Funktion des Schutzwaldes wird beeinträchtigt
«Der hohe Wildbestand ist zur Zeit eines der grössten Probleme, das wir in der Waldwirtschaft haben.» Hans Stauffer, Betriebsleiter und Förster vom Forstbetrieb Sigriswil BE, wählt klare Worte. Er weiss auch warum. In seinem Betrieb, der immerhin 4300 ha Wald umfasst und damit zu den grössten der Schweiz gehört, gibt es zahlreiche Wildschäden.
Rehe gibt es im Wald rund um den Thunersee schon lange, und auch der Hirsch ist nicht ganz neu. Neu aber sind die hohen Wildbestände und die daraus resultierenden Schäden, die der Wald alleine nicht mehr kompensieren kann. «Der Druck ist zu gross», sagt Stauffer, und: «Die Stabilität der Bestände ist langfristig nicht mehr gewährleistet.»
«Wir verlieren die Weisstanne»
Vor allem die für die höheren Lagen standortgerechte Weisstanne hat mit dem hohen Wilddruck zu kämpfen. «Wir verlieren die Weisstanne», schlägt Hans Stauffer Alarm. Problem ist der so genannte Verbiss. Reh und Hirsch fressen die noch junge Tanne, so dass sie sich nicht mehr weiterentwickeln kann und eingeht.
Gerade im Voralpen- und Alpenraum erfüllt die Weisstanne als Baumart, die auch in schattigen Wäldern gut und schnell wächst, eine wichtige Funktion im Schutzwald. Der hohe Wilddruck gefährdet diese Funktion, da die Verjüngung des Weisstannenbestands nicht mehr gewährleistet ist. Fällt die Weisstanne grossflächig aus, ist die Stabilität der Wälder beeinträchtigt. Der Bestand wird anfällig gegenüber Sturm.
Wirtschaftlichkeit des Waldes nimmt stetig ab
Doch nicht nur die Funktion des Schutzwaldes ist gefährdet, denn auch in punkto Wirtschaftlichkeit entstehen aufgrund der Wildschäden grosse Einbussen. Insbesondere auch die Schälschäden sind für Wirtschaftlichkeit Gift. Bäume, bei denen der Hirsch die Rinde abschält, dienen nur noch für minderwertige Produkte, wie z. B. Holzschnitzel. «Der Stamm wird faul», erklärt Hans Stauffer weiter.
Doch diese Argumente werden nicht gehört. «Das Problem ist, dass die Gesellschaft den Wald nicht als Business anerkennt», analysiert der Förster weiter. Das Forstbetrieb Sigriswil muss sich aus der Holzproduktion finanzieren. Ertragsausfälle durch Wildschäden wiegen schwer und schränken die Möglichkeiten auch privater Waldeigentümer ein.
Holzproduktion steht über Biodiversität
Als Betriebsleiter ist für ihn klar: die Holzproduktion steht über der Biodiversität, denn je weniger der Wald bewirtschaftet wird, umso tiefer ist auch die Artenvielfalt. Die meisten Jungwaldbestände sind wildbestimmt. D. h., Buche und
Fichte, die vom Wild weniger angegangen werden, breiten sich zulasten der Artenvielfalt aus. «Die Erhaltung respektive Wiederherstellung von standortgerechten Wäldern wird in Zukunft sehr hohe Kosten verursachen», ist sich Hans Stauffer sicher.
Auch der Mensch leistet seinen Beitrag zum Problem. Der Wald als Erholungsgebiet hat viele Besucher. Dauernde Störung der Wildtiere in ihrem Lebensraum führen erwiesenermassen zu mehr Wildschäden an Waldbäumen.
Schutz der jungen Bäume ist schwierig und aufwendig
Vor allem Weisstannen mit kleinem Durchmesser fehlen allmählich in den Schweizer Wäldern. Schützen lassen sich die jungen Bäume grossflächig kaum. Eine Möglichkeit ist der Einzelschutz. Dabei können zum Beispiel Einzelkörbe um den jungen Baum gelegt werden. Auch ein chemischer Schutz, bei dem die jungen Bäume bespritzt werden, ist eine mögliche Lösung. Doch der Aufwand für einen einzelnen Waldbesitzer ist riesig, da der chemische Schutz während einigen Jahren wiederholt werden sollte. Ab ungefähr 1,5 Meter sei die Tanne zwar sicher vor Rehen, aber noch lange nicht vor dem Hirsch.
Waldbesitzer sollen ihren Schaden melden
Je nach Wildbestand können die Schäden im Waldbestand massiv sein. Vor allem die Folgeschäden wie die Fäulnis des Stamms. Teilweise könne man die Schäden gar nicht richtig erfassen, z. B. wenn ein ganz junger Baum gefressen werde, erklärt Hans Stauffer weiter.
Der Förster appelliert deshalb an die Waldbesitzer, ihre Schäden geltend zu machen. Im Kanton Bern müsse ein Formular ausgefüllt werden, danach folgt eine gemeinsame Besichtigung des Wildhüters, des Revierförsters und des Waldbesitzers. So sei zumindest ein Teil des Schadens ausgeglichen.
Der Forstbetrieb Sigriswil hat auf diesem Weg bereits ei
nige Schäden aufgenommen und gemeldet. Die Resultate sind ernüchternd. Nicht einmal
die Investitionskosten, die der
Waldbesitzer bis zu diesem Zeitpunkt mit dem betroffenen Waldstück hatte, können abgedeckt werden. «Ganz zu schweigen vom Ertragsausfall», ergänzt Stauffer. Er beobachtet, dass Waldbesitzer bis jetzt sehr zurückhaltend sind, wenn es darum geht, Schäden im Wald zu melden.
Mögliche Lösungen für den hohen Wilddruck sieht Stauffer nur in der Regulierung der Wildbestände. «Da der natürliche Feind fehlt, muss die Jagd ihren Beitrag leisten», ist er sich sicher. Konzepte auf Papier brächten dem Wald hingegen wenig.
Julia Schwery