Kurz nachdem die Schweizer Nationalbank vor gut einem Jahr die Kursuntergrenze zum Euro aufhob, fuhren mehr Einkaufstouristen über die Grenze nach Deutschland und Frankreich, um den günstigen Euro zu verprassen. Sie kauften üppig ein – Kleider, Elektronikgeräte, Lebensmittel, allen voran Fleisch und Milch. Ein halbes Kilo Rindshackfleisch für umgerechnet 4,16 Fr, einen Liter Milch für umgerechnet 68 Rappen.

Ein Eldorado für Schnäppchenjäger – und ein Alptraum für den Schweizer Detailhandel und seine Zulieferer, die Molkereien, die Metzgereien und die Schweizer Landwirte. Die Jahresziele 2015 wurden eilig nach unten korrigiert, die Gewinnerwartungen nach zwei guten Jahren erheblich geschmälert und auch die Produzentenpreise gerieten zusätzlich unter Druck. 


«Detailhändler dramatisieren Ausmass mit ihren Zahlen vielleicht etwas»

Ein Jahr nach dem Frankenschock zeigt sich, dass die Massnahmen gewirkt haben. Zwar 
haben Schweizerinnen und Schweizer für umgerechnet 10,7 Mrd Franken Güter im Ausland gekauft (davon Lebensmittel im Wert von 2,41 Mrd Franken), die Gewinne im Detailhandel sind aber nicht so stark zurückgegangen, wie zuerst befürchtet. Coop hat sich zum Beispiel gut geschlagen. Vergangenen Dienstag trat deshalb ein zuversichtlicher Joos Sutter in Basel vor die Medien. «Wir sind gut unterwegs in den herausfordernden Märkten», sagte der CEO an der Bilanzmedienkonferenz. Die Umsätze in den Supermärkten sind mit insgesamt 10,5 Mrd Franken teuerungsbereinigt konstant geblieben, während die Anzahl Kunden um 2,4% zugenommen hat.

Eine Studie zum Detailhandel der Grossbank Credit Suisse hält fest, dass die teuerungsbereinigten Umsätze im Lebensmittelhandel vergangenes Jahr gestiegen sind: bei Coop hätten sie um 0,6%, bei der Migros um 1,3% zugenommen. 
«Der Einkaufstourismus ist für die Detailhändler ohne Zweifel ein Problem, auch wenn sie das Ausmass mit ihren Zahlen vielleicht etwas dramatisieren. Klar ist aber auch, dass die Leute nicht in erster Linie Lebensmittel über der Grenze einkaufen, sondern vielmehr Nonfoodartikel wie Kosmetika, Windeln, Tierfutter, Putzmittel, Kleider, Schuhe und ähnliches. Deshalb ist es absolut nicht gerechtfertigt, wenn die Verarbeiter oder Detailhändler deswegen Druck auf die Produzentenpreise der Schweizer Landwirtschaft ausüben», sagt Markus Ritter, Präsident des Schweizer Bauernverbandes.

«Nicht nur ein Druckmittel»

Die Drohung, dass der Einkaufstourismus zunimmt, wenn die Produzentenpreise nicht auch gesenkt werden, ist demnach nur heisse Luft des Handels und der Abnehmer. 
Dem widerspricht Emmi-Mediensprecherin Sibylle Umiker: «Der Einkaufstourismus ist nicht einfach nur ein Druckmittel. Es ist Tatsache, dass in der Schweiz weniger Schweizer Milchprodukte abgesetzt werden konnten», sagt sie.

Joos Sutter von Coop stösst in dasselbe Horn: «Wir sind im gleichen Boot mit den Bauern. Ohne unser Engagement für qualitativ hochwertige Lebensmittel wäre die Landwirtschaft in der Schweiz nicht so, wie wir sie heute kennen», sagt er. «Wir wollen unseren Kunden Schweizer Produkte bieten und investieren auch viel in Produkte mit Mehrwerten wie zum Beispiel Naturaplan, Naturafarm oder Pro Montagna und deren Verkaufsförderung. Ich bin überzeugt, ohne unser Engagement in der Auslobung und Kommunikation der Mehrwerte unserer heimischen, lokalen und Bio-Produkte wäre die Landwirtschaft bei weitem nicht so stark entwickelt.»

Ausserdem glaubt er, «dass es für uns und für die Landwirtschaft wichtig ist, dass wir auch die Mengen in der Schweiz erhalten können.» 
Gerade in diesen Massenmärkten ist allerdings die Preisdifferenz zum Ausland entscheidend. Und diese Preisdifferenz wurde mit der Aufhebung der Kursuntergrenze auf einen Schlag höher. Der Importdruck auf den Handel stieg, der Gang über die Grenze wurde auch für Privatpersonen noch lukrativer als vorher. 
Und auch die Verarbeiter bekunden Umsatzrückgänge – so zum Beispiel Emmi: «Emmi hat im vergangenen Jahr 5,5% an Umsatz eingebüsst», sagt Sibylle Umiker. «Davon waren 3,3%, also etwa 62 Millionen Franken, Mengenverluste. Ob diese Mengenverluste auf den Einkaufstourismus, den Wechsel zu Importprodukten oder einen rückläufigen Konsum von Milchprodukten zurückzuführen sind, können wir nicht beurteilen», sagt sie weiter.


Ein etwas anderes Bild zeigt sich bei den Fenaco-Töchtern Volg und Landi. «Generell konnten Volg und Landi keine Umsatzrückgänge in Grenzregionen feststellen», sagt Fenaco-Pressesprecherin Szilvia Früh. Ausserdem sei der Einkaufstourismus nicht neu, schon in den letzten Jahren hätten Schweizer Konsumenten im grenznahen Ausland eingekauft. 


Ein zusätzlicher Nebeneffekt der Aufhebung der Kursuntergrenze ist die Verbilligung der Importprodukte. Bücher, Zeitschriften, Elektrogeräte und importierte Lebensmittel wurden auf einen Schlag günstiger. Bei Coop hat man versucht, die Währungseffekte möglichst rasch an die Konsumenten weiterzugeben. Alleine bei Coop wurden die Preise im Jahr 2015 im Detailhandel 600 Mio Franken günstiger, was Umsatz gekostet hat. 
Wie Szilvia Früh sagt, sei das Umfeld nach wie vor herausfordernd: «Der Detailhandelsmarkt ist um 2 Milliarden Franken geschrumpft, der Einkaufstourismus auf rund 11 Milliarden angewachsen. Der Druck ist permanent und bereits seit Jahren da.» 


Der Einkaufstourismus 
wird bleiben

So hat sich der Einkauf im grenznahen Ausland mittlerweile als Konsumgewohnheit etabliert. Wie die IG-Detailhandel schreibt, stellt das Phänomen des Auslandkonsums «den Schweizer Detailhandel, die Gastronomie und weitere Branchen damit nicht nur heute, sondern auch in Zukunft vor grosse Herausforderungen».

Auch die Migros-Industrie rechnet damit, dass der Einkaufstourismus den Druck aus dem Ausland aufrechterhalten wird. 
Dabei muss das nicht heissen, dass sich die Schweizer Bauern auf weitere Preisrunden gefasst machen müssen. Wie eine Studie der Universität St. Gallen besagt, sind Schweizer Konsumenten bereit, für ausländische Lebensmittel in der Schweiz bis zu 20% mehr zu bezahlen als im Ausland. Mindestens wissen die Einkaufstouristen, dass der Werkplatz Schweiz höhere Kosten hat. Zudem schätzen die Konsumenten die Tierhaltungsbedingungen in der Schweiz besser ein als im umliegenden Ausland, die hiesige Landwirtschaft wird als umweltbewusster eingeschätzt, als diejenige im umliegenden Ausland. Auch das grössere Sortiment an Bio- und Regioprodukten wird positiv bewertet. 


Insgesamt ist der Einkaufstourismus für den Detail- und den Grosshandel die grössere Herausforderung als für die Verarbeiter und die Landwirtschaft. Die Credit Suisse zeigt in ihrer Studie nämlich auf, dass bei jedem Franken, der im Detailhandel für Lebensmittel ausgegeben werden, 17 Rappen an Grosshändler und 25 Rappen an Detailhändler gehen. Die übrigen 58 Rappen werden auf die Verarbeiter und die Landwirte aufgeteilt. Entgehen dem Detailhandel im Lebensmittelmarkt 2,41 Mrd Franken, teilen sich die Bauern und Verarbeiter demnach einen Verlust von rund 1,4 Mrd Franken. Die restliche Milliarde trägt der Schweizer Detailhandel.

Hansjürg Jäger

Mehr zum Thema in der «BauernZeitung» vom 26. Februar 2016