BauernZeitung: Der Sonntag war ein Krimi. Wie haben Sie ihn erlebt?

CLAUDE LONGCHAMP: Wir waren beim gfs.bern angespannter als auch schon, weil wir wussten, dass das Ergebnis eng sein würde. Wir hatten Hinweise, vor allem aus dem Kanton Genf, auf eine starke Mobilisierung. Das sprach dafür, dass die Zustimmung zur Initiative noch einmal ansteigen würde. Wir wollten eine möglichst perfekte Sendung und Hochrechnung machen. Als wir gesehen haben, dass es im Promillebereich um 50% Ja und Nein herumgeht, war uns klar, dass es ein langer Nachmittag werden könnte. Da ging Präzision vor Schnelligkeit.  Die Hochrechnung endete bei 50,4%. Effektiv war es 50,3%.


Die SVP im Alleingang – für Parlament, Bundesrat, die übrigen Parteien und Verbände eine Niederlage – wurde die Initiative von den Gegnern schlicht unterschätzt?


LONGCHAMP: Wir stimmen in der Schweiz nicht einfach gegen unsere Behörden, wir haben sie gewählt, wir haben ein Grundvertrauen in unsere Institutionen. Aber es gibt drei Bereiche, in denen es, wie wir Politologen sagen, Elite-Basis-Konflikte geben kann: Migrationsfragen, EU-Politik und Liberalisierungen im Wirtschaftsbereich. Damit meinen wir Diskrepanzen zwischen Behörden, Bundesrat, Parlament, Parteien und Verbänden resp. der Bevölkerung. Im Bauernverband kam das deutlich zum Ausdruck, beim Gewerbeverband beschränkt. Nun, die Zuwanderungsinitiative liegt im Schnittfeld aller Bereiche. An sich waren wir deshalb nicht  überrascht, dass es so kommen könnte. Allerdings überraschte uns, dass die fünf bisherigen Abstimmungen zu Bilateralen und Personenfreizügigkeit nur noch beschränkt nachwirkten. Entsprechend verpufften ökonomische Argumente vor allem in der Deutschschweiz.


Wie sehr ging es in der Abstimmung um Sachargumente, und wie sehr haben die Emotionen mit hineingespielt (die öfters zitierte «diffuse Angst» der Bevölkerung)?


LONGCHAMP: Wenn es eine rein sachbezogene Abstimmung gewesen wäre, hätte man über die Vor- und Nachteile des Kontigentsystems gegenüber den Vor- und Nachteilen der Personenfreizügigkeit debattiert. Die Personenfreizügigkeit ist ein Bestandteil der Bilateralen, sie hat viele wirtschaftliche Vorteile bei gesellschaftlichen und staatlichen Nachteilen.
Das Kontigentsystem haben wir vor einigen Jahren zugunsten der Personenfreizügigkeit aufgegeben, nicht zuletzt, weil es eine bürokratische und aufwändige Massnahme ist. Wäre dies die Debatte gewesen, wäre es zu einem

«Nein» gekommen.
Nun kam es anders, ich denke aber nicht, dass man das alleine mit Emotionen erklären kann. Aber im Januar entstand eine recht allgemeine Diskussion über Migration, über Lebensqualität in der Schweiz, mit Entfremdungsgefühlen. Bedenken hierzu müssen vorhanden sein, wenn sich entsprechende Ängste mit Werbung schüren lässt.  


Aus Brüssel kam postwendend Kritik. Glauben Sie, dass die EU auch wirk-

lich Konsequenzen aus dem Entscheid der Schweiz zieht?


LONGCHAMP: Die EU wird in den nächsten Wochen sehr kritisch auf die Schweiz reagieren. Das heisst noch nicht, dass man das Kind mit dem Bade ausschütten wird. Aber es wird nun eine Phase geben, in der die EU alle Begehrlichkeiten der Schweiz vom Tisch wischen wird. Das haben wir jetzt bereits gesehen beim Erasmus-Abkommen, dann beim Elektrizitätsabkommen. Schlimm würde es für die Schweiz werden, wenn die EU das Forschungsabkommen blockiert. Der Forschungsstandort Schweiz ist auf internationale Beziehungen und auf die EU angewiesen.


Entscheidend wird die Frage sein, ob die Bilateralen gefährdet sind  . . .


LONGCHAMP: Die Initiative lässt drei Jahre Zeit, um bei der Personenfreizügigkeit zu einer Regelung zu kommen. Die Initiative lässt ja auch eine Hintertüre offen, weil sie nicht obere Limiten für Kontingente festlegt. Es gibt eine gewisse Flexibilität, insbesondere gegenüber der Zuwanderung aus Arbeitsgründen aus dem EU-Raum.

Wir werden aber in nächster auch noch über die Ecopopinitiative abstimmen. Würde sie angenommen, würde sie die SVP-Initiative nicht ausser Kraft setzen, aber in einem Punkt massiv verschärfen. Die Zuwanderung bekäme per Verfassung eine obere Limite und das wäre dann für die Verhandlungen mit der EU der schwierigste Punkt überhaupt. Das gefährdet die Bilateralen direkt.


Der Schweizer Bauernverband fasste die Nein-Parole mit Rücksicht auf die Gemüse-,  und Obstbauern, die auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen sind. Wie schätzen Sie die Konsequenzen für die Landwirtschaft bei einer erneuten Kontingentierung ein? Werden dann nicht einfach wertschöpfungsstärkere Branchen bevorzugt?


LONGCHAMP: Zunächst wird es um Branchen mit hoher Wertschöpfung gehen, es wird um Branchen gehen, die erheblich auf solche Arbeitskräfte angewiesen sein werden. Ich denke, das ist für die Landwirtschaft von Nachteil. Ein eventueller Vorteil kann sein, dass die Initianten – die SVP mit Toni Brunner – der Landwirtschaft positiv gegenüberstehen und hier einen Kompromiss erwirken könnten.


Die Initiative hat nicht nur die Schweiz gespalten, sondern auch die Landwirtschaft. 9 Kantonal- und Fachverbände folgten der Parole des Schweizer Bauernverbandes nicht, es hagelte Kritik und viele böse Leserbriefe. Wird dies für den SBV weitere Konsequenzen haben?


LONGCHAMP:Ich glaube, in einem Punkt wird man sicher beim Bauernverband eine vertiefte interne Diskussion machen müssen – und zwar zwischen den Ansprüchen der Basis und den Ansprüchen des Verbandes, der auch auf Support von anderen Verbänden angewiesen ist, insbesondere was die Landwirtschaftssubventionen anbetrifft. Bisher hat sich der SBV allermeistens dafür entschieden, dass er stark auf die Forderungen der anderen Verbände eingegangen ist. Insbesondere in EU-Fragen ist eine gewisse Kluft zwischen dem Verband und der Basis nicht zu übersehen. Ich gehe deshalb davon aus, dass die meisten Bauern der Initiative gegen Masseneinwanderung zugestimmt haben. Selbst im Seeland war das Ja mehrheitlich.


Sind Ihnen ähnliche Fälle aus anderen Verbänden bekannt?


LONGCHAMP: Das Phänomen ist nicht ganz neu, auch beim Bauernverband nicht. Diesmal war es aber hochpolitisch und hochbrisant.


Der SBV hat Konsequenzen gezogen und bringt Parolen von dieser Tragweite künftig vor 
seine Landwirtschaftskammer (statt nur Vorstand) – bringt ihn das der Basis wieder näher?


LONGCHAMP: Ganz sicher ist das ein erster Schritt. Höchstwahrscheinlich wäre es aber nötig, dass die verbandsöffentliche Diskussion im Vorfeld verstärkt werden.

Der SBV startete diese Woche mit der Unterschriftensammlung zu einer eigenen Initiative. Könnte das brancheninterne Hickhack um die Masseneinwanderungsinitiative diesem Begehren schaden? Oder kann die Initiative die Landwirtschaft in sich wieder etwas mehr vereinen?


LONGCHAMP: Ich bin überzeugt, dass diese Initiative die Identifikation mit dem Bauernverband wieder erhöht und auch den Kitt wiederherstellen wird. Wir wissen aber nicht, wie die Diskussion um die Einwanderungskontigente weitergeht. Falls die Kontigente für den Bauernstand eingeschränkt werden, ist damit zu rechnen, dass innerhalb des Bauernstandes noch einmal eine heftige Debatte aufkommt, wer an dieser Situation schuld ist.


Interview Jeanne Woodtli