LID: Der Netto-Selbstversorgungsgrad liegt erstmals unter 50 Prozent. Ist das ein Alarmzeichen für die Schweizer Landwirtschaft?

Urs Schneider: Ja, ganz klar. Damit wird eine historische Schwelle unterschritten. Diesem Trend müssen wir Einhalt gebieten. Die internationalen Entwicklungen zeigen, dass Ernährungssicherheit eine der grossen Herausforderungen der Zukunft sein wird. Immer mehr Menschen müssen mit knapper werdenden und bedrohten Ressourcen leben. Die Zeit der Lebensmittel im Überfluss zu günstigstenPreisen geht zu Ende. Jedes Land muss einen Beitrag leisten, um für die Zukunft gewappnet zu sein. Auch die kleine Schweiz, die in den letzten Jahren mit ihrer nachhaltigen Landwirtschaft zum weltweiten Vorbild geworden ist.

Noch vor gut 20 Jahren lag der Nettoselbstversorgungsgrad bei rund 60 Prozent, 2016 unter 50 Prozent. Was sind die Gründe für diese Tendenz?

Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Grundsätzlich hat die Wohnbevölkerung der Schweiz zugenommen, während das Kulturland zurückgeht. Weil sich die Schweizer Landwirtschaft einer nachhaltigen Produktion verschrieben hat, können wir den Output nicht beliebig erhöhen. Das führte dazu, dass wir mehr Lebensmittel als früher importieren müssen, um die Versorgung zu gewährleisten. Der Nettoselbstversorgungsgrad ist auch gesunken, weil wir immer mehr Futtermittel importieren. Dies liegt unter anderem auch daran, dass sich der Futtergetreideanbau in der Schweiz wegen den viel zu tiefen Produzentenpreisen nicht mehr rechnet.

Sie sprechen die sinkende Zahl Schweizer Futtermittel an. Aus welchen Gründen steigen diese Importe?

Die Konsumenten lieben Geflügelfleisch. Dessen Konsum hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Hühner und Schweine sind aber im Gegensatz zu Kühen, Schafen oder Ziegen keine Grasfresser. Das heisst, sie bekommen ein Futter, das aus Stärke- und Eiweissträgern besteht. Da wir in der Schweiz immer weniger Futtergetreide selber produzieren, müssen wir dieses importieren. Wir sind aber der Meinung, dass es Sinn macht, die Fleischproduktion auch im Inland zu haben und so die Erwartung der Konsumenten in hohe Tierschutzanforderungen zu erfüllen.

Ist es nötig, den Anbau von Futtermitteln in der Schweiz zu fördern?

Ja, ein höherer Anteil einheimischer Futtermittelproduktion hilft mit, den Rückgang des Nettoselbstversorgungsgrades zu stoppen.

Jonas Ingold/lid

Eine gänzliche Unabhängigkeit von ausländischem Futter ist kaum realistisch. In welchem Bereich sollte sich Ihrer Meinung nach der SVG bewegen?

Wir werden immer auf Importe angewiesen sein. Bundesrat Schneider-Ammann hat bei der Behandlung der Initiative für Ernährungssicherheit im Parlament gesagt, dass er bei 55 Prozent liegen sollte.

Inwiefern wirkt sich der tiefere Selbstversorgungsgrad auf die Schweizer Landwirte aus?

Zu hohe Importanteile verdrängen im Preis- und Margenkampf die Schweizer Produkte aus den Läden und drücken die Erlöse der Bauernfamilien auf ein Niveau, das die Kosten nicht mehr deckt. Damit beschleunigt sich der Strukturwandel.

In der Schweiz als auch weltweit haben Wetter-Extreme in den letzten Jahren zugenommen und Ernten beeinträchtigt. Ist aufgrund dessen der Druck auf die Ernährungssicherheit gestiegen resp. die Gefahr grösser, dass diese nicht mehr gewährleistet ist?

Klimaerwärmung, Wasserknappheit, Erosion, Kulturlandverlust zusammen mit dem Bevölkerungswachstum bringen es mit sich, dass die Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln tatsächlich eine der grössten Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte ist. Die Wetterextreme führen zu deutlich grösseren Produktionsunsicherheiten, das heisst wir müssen uns nicht nur mit der generellen, sondern auch mit kurzfristiger Verknappung der Versorgung auseinandersetzen.

Bauernvertreter haben immer wieder kritisiert, dass bei der aktuellen Agrarpolitik die produzierende Landwirtschaft zu kurz komme. Muss der Bund künftig die Nahrungsmittelproduktion wieder stärker fördern?

Es braucht nicht eine fundamental andere Agrarpolitik, aber neue Akzente in verschiedenen Bereichen, z.B. im Landwirtschaftsgesetz oder in der Raumplanung.