Ausharren. Hellwach und doch ruhig bleiben. Sich wenig bewegen. Und das bis zu zwölf Stunden. Auch wenn es wie aus Kübeln zu giessen beginnt, immer wieder eisige Wassertropfen den Hals hinunter laufen, die Kälte in die Knochen kriecht. Für Renate König gehört das zu ihrer Leidenschaft dazu: Sie ist Jägerin.

«Ich kenne das seit Kindesbeinen», sagt die 37-Jährige. «Mein Vater ist seit Ewigkeiten Jäger, meine Mutter hat später ebenfalls die Jagdprüfung gemacht. Ich begleitete meinen Vater früher oft auf die Jagd und heute gehen wir alle drei gemeinsam auf die Pirsch.» Aufgewachsen ist sie im Emmental. Heute lebt sie mit ihrem Mann, einem Musiker und Lehrer, in Zweisimmen im Berner Oberland in einem alten Schulhaus. In den ­zurückhaltend renovierten Räumen und der Einrichtung steckt viel Liebe zum Detail. Hier wird gerne gewohnt.

Der Beruf verlangt von Renate König eine solide Mischung aus Fachkönnen, Stressresistenz und Ein-fühlungsvermögen: Die ausgebildete Pflegefachfrau arbeitet als stellvertretende Stationsleiterin im Spital Zweisimmen. Die Natur bietet ihr Ausgleich. «Mir gefällt das Draussensein. Wenn ich lange laufe oder im Wald arbeite, fällt der Alltagsstress von mir ab. Und wenn ich stundenlang an einem Ort ausharre, hat das fast schon meditativen Charakter.»

Ein Begriff, viele Teilbereiche

Hört man Renate König über «die Jagd» sprechen, spürt man viel Begeisterung – und lernt, dass zu diesem Begriff ganz unterschiedliche Aktivitäten gehören. Im Sommer engagieren sich Jäger zum Beispiel für die Rehkitzrettung in Wiesen und Feldern. In Zusammenarbeit mit den lokalen Forst- und Gemeindebehörden pflanzen sie Hecken, bauen Zäune, pflegen Waldränder, legen Biotope an. Sie montieren Wildwarnreflektoren und andere Schutzeinrichtungen entlang der Strassen.

«Jagd ist mehr als ein Hobby», sagt Renate König. «Für mich ist es eine Passion. Auch wenn, wie jetzt, keine Jagdsaison ist, sind wir im Wald unterwegs, beobachten die Tiere und übernehmen Hege-Aufgaben. Viele Leute wissen gar nicht, was alles zur Jagd gehört. Jagen ist mehr als einfach kurz im richtigen Moment den Abzug zu ziehen. Das eigentliche Erlegen macht nur ein Prozent der ganzen Jagd aus.»

Klare Regelungen in der Schweiz

Bevor das Erlegen überhaupt zum Thema wird, braucht es Planung, Ausrüstung und Ausbildung. Die Jagdplanung beginnt in den einzelnen Kantonen jeweils im Frühling: Das Wild wird gezählt und das Jagd-Kontingent festgelegt. Als Grundsatz gilt dabei die «nachhaltigen Hegejagd»: Die Jagd darf nur auf der Basis gesicherter und gesunder Wildbestände erfolgen.

In der Schweiz leben etwa 138 000 Rehe, 33 000 Hirsche und 91 000 Gämsen. Vor allem die Rothirsch- und Wildschwein-Bestände haben in den letzten Jahren stark zugenommen und damit auch die Zahl der Schäden, die die Tiere im Forst und in der Landwirtschaft verursachen.

In Renate Königs Heimatkanton Bern durften 2017 zum Beispiel 504 Hirsche geschossen werden – natürlich nur mit der dazu nötigen Bewilligung, dem entsprechenden Jagdpatent. In Bern benötigen Jäger ein «Basispatent» für die Jagd auf Tiere wie Füchse, Dachse oder Krähen. Für andere Wildarten braucht es ein Zusatzpatent: für bis zu zwei Gämsen oder Rehe, für Rothirsche, Wildschweine oder Wasservögel.

So ein Jagdpatent kostet. «Bei mir waren es letztes Jahr rund 1000 Franken. Dazu kommt die Ausrüstung.» Was nochmals einige tausend Franken macht. Vor der Jagdprüfung steht die Ausbildung, die sich über ein bis zwei Jahre zieht. Gebüffelt wird unter anderem Pflanzen-, Wild- und Waffenkunde, allgemeine Biologie, Jagdhundewissen sowie die gesetzlichen Richtlinien. Dazu kommt eine praktische Schiessprüfung, ein Test in Waffenhandhabung und 50 Stunden Hegearbeiten.

Renate König hat ihr Jagdpatent seit vier Jahren. Regelmässiges Schiesstraining gehört für sie auch heute noch dazu. «Um im Wald schnell reagieren zu können, muss ich mein Jagdwerkzeug in- und auswendig kennen.» Das ist der handwerklich-technische Teil des Trainings. Den mentalen Teil kann man nur sehr bedingt in der Theorie lernen, dafür braucht es die praktische Erfahrung. «Es muss für mich jedes Mal innerlich stimmen, den Abzug durchzuziehen.»

Die eigentliche Jagd kann einen ganz unterschiedlich Charakter haben. Da ist zum einen die sogenannte «Hochjagd» auf Hirsche und Gämsen und Wildschweine. Dabei ist man in der Regel allein unterwegs. Man folgt den Fährten des Wildes, pirscht sich heran. Oder man sucht sich einen geeigneten Platz – und wartet, mit sehr unterschiedlichen Erfolgsaussichten.

Herzklopfen bis zum Hals

Eine andere Jagdart ist die «Niederjagd» oder «laute Jagd», vor allem auf Rehe. Hier sind bis zu fünf Jäger gemeinsam unterwegs. Für die Niederjagd kommen Jagdhunde zum Einsatz, die das Wild «aufmachen», wie es in der Jägersprache heisst. «Sie sollen das Wild aufspüren. Die Hunde jagen nicht auf Sichtkontakt, sondern folgen dem Geruch», erklärt Renate König.

Renate König erinnert sich gut, als sie zum ersten Mal selbst einen Rehbock schoss. «Es war an einem 1. August im Elsass, wo meine Eltern eine Jagdpacht haben. Ich war sehr aufgeregt, weil nun die ganze Verantwortung bei mir lag.» Der Tag war sonnig und trocken und sie sass bereits geraume Zeit auf einem Hochsitz. Endlich zeigte sich ein Rehbock, doch es war nicht der, den sie wollte. Also weiter ausharren. «Ich sass an diesem Nachmittag gut drei Stunden auf diesem Hochsitz.» Erst gegen Abend tauchte der Bock auf, auf den sie gewartet hatte.

Das Wild ansprechen

«Das ist der Moment, in dem wir Jäger das Wild ‹ansprechen›. Das heisst, ich kontrolliere genau, ob das Tier überhaupt zum Abschuss frei ist. Ich prüfe die Tierart und das Geschlecht, schätze Alter und Konstitution ein. Wenn alles stimmt, geht es darum, ob ich selbst in diesem Moment zum Schiessen bereit bin.»

Renate König zog im richtigen Moment den Abzug, erlegte den Rehbock mit einem Blattschuss. «Mir klopfte das Herz bis zum Hals. Als Erstes rief ich meine Eltern an, die in einem anderen Teil des Waldes unterwegs waren. Dann blieb ich sitzen und versuchte, den Moment zu verarbeiten.»

Nach dem Schuss ist Geduld gefragt. «Man wartet einige Zeit und lässt das Tier in Ruhe sterben. Hat man gut geschossen, muss es nicht leiden. Geht man schliesslich zum Wild, bekommt es als Dank und aus Respekt einen letzten Bissen in den Mund, zum Beispiel einen Tannenzweig.» Zur Jagd dazu gehört, sich die Hände schmutzig zu machen: Das Tier wird vor Ort aufgebrochen. Es blutet aus und die Jägerin entnimmt die Innereien. Was nicht essbar ist, wird vergraben.

Auch belastende Erlebnisse

Auch den erfahrensten Jägern gelingt nicht jeder Schuss. Das sind für Renate König die belastenden Erlebnisse ihrer Passion. «Wenn ein Schuss ein Tier nicht tötet und es verletzt wegläuft. Als Jäger ist man dann verpflichtet, eine sogenannte Nachsuche zu machen. Das Tier wird mit einem speziell ausgebildeten Hund gesucht und von seinem Leiden erlöst.»

Als Jägerin ist die Berner Oberländerin keine Ausnahmeerscheinung. Die Jagd zieht immer mehr Frauen an. Laut Jagdstatistik des Bundes­amtes für Umwelt sind heute fünf Prozent aller «Jagdausübenden» weiblich. In Zahlen heisst das: Im Jahr 2016 wurden 701 Jägerinnen gezählt. Tendenz steigend.

«Das hat wohl mit dem Trend zurück zur Natur zu tun und mit einer anderen Einstellung zur Ernährung», vermutet Renate König. «Man will wissen, woher die Lebensmittel kommen, was man isst. Für mich ist es so. Ich übernehme die Verantwortung für den ganzen Prozess. Mit der Jagd decke ich unseren gesamten jährlichen Fleischbedarf. Glücklicherweise ist mein Mann ein ausgezeichneter Koch.»

Botschafterin sein

Dass Trophäen und Statussymbole bei jagenden Frauen kaum eine Rolle spielen, zeigt auch eine Studie der Universität Bremen. Laut der geht es Jägerinnen vor allem um die Erhaltung von Wald, Wild und Natur. Fast die Hälfte engagiert sich im Natur- und Umweltschutz und/oder hat spezialisiertes Fachwissen.

Als «Jägerin des Jahres» ist Renate König für zwei Jahre Botschafterin für die Jagd. «Unter dem Begriff Jäger stellen sich die meisten einen älteren, bärtigen und wortkargen Mann vor. Als Frau gelingt es mir vielleicht eher, Vorurteile abzubauen. Wo es möglich ist, lasse ich mich gerne auf Diskussionen ein. Denn viele wissen gar nicht, welche Ethik hinter der Jagd steckt.»

Sie sei auch schon als Mörderin beschimpft worden. Und natürlich wisse sie, dass es ganz furchtbare Jagden gäbe, auf denen nur wild drauflos geknallt würde. Für sie selbst hat Jagd viel mit Naturverbundenheit und einem konsequenten Leben zu tun.

Jedes Jahr geht die Berner Oberländerin mit ihrer Jagdgruppe auf die Gämsjagd. «Fünf Tage mit drei Männern in einer abgelegenen Berghütte. Ohne Strom. Zum Waschen nur der Brunnen vor der Tür. Ich fühle mich extrem wohl in dieser Gruppe. Als Frau wurde ich unkompliziert aufgenommen und bekam viel Unterstützung.»

Die Gämsgeweihe hat sie behalten. Nicht als Trophäe, einige hängen für Gäste unsichtbar in ihrem Schlafzimmer. Vielmehr als letzte Ehre für die Tiere.