Die Stimmung in Oberbottigen BE korrelierte nicht so recht mit dem Wahlergebnis: 78,7 Prozent der Stimmbürger haben den Gegenvorschlag zur Ernährungssicherheitsinitiative gutgeheissen. Nur 21,3 Prozent waren dagegen. Ein Erfolg, von dem nicht einmal SBV-Präsident Markus Ritter zu träumen wagte. Tatsächlich ist dem SBV politisch allen Schwächen und Unsicherheiten der Vorlage zum Trotz ein Meisterstück gelungen, das auch historisch von gewisser Bedeutung ist. Denn mit dem Ergebnis vom Sonntag wird nun der Artikel 104 der Bundesverfassung mit dem Artikel 104a ergänzt. Während Artikel 104 im Juni 1996 mit 77,6 Prozent Ja-Stimmen festgeschrieben wurde, liegt die Zustimmung für die Ergänzung bei 78,7 Prozent. Das wäre ein guter Grund für ein ausgelassenes und feuchtfröhliches Fest gewesen. Aber in Oberbottigen war man auch am späten Nachmittag stocknüchtern, zuweilen gar etwas steif. Und selbst beim SBV-Internen Rundbrief, den SBV-News, der am Montag jeweils für die Vorwoche versandt wird, war das historische Abstimmungsergebnis vom Sonntag kein Thema.
Interpretation bleibt offen
Ein wesentlicher Grund: Auch am Tag 1 nach der Abstimmung ist unklar, wie sich Artikel 104a auf die tatsächliche Ausgestaltung der Agrarpolitik auswirken wird. Und das wusste man auch in Oberbottigen. Und man konnte es am Montagmorgen am Frühstückstisch in den Zeitungen lesen. Denn auch den Journalisten ist nicht entgangen, dass verschiedene Gruppierungen die Deutungshoheit über das Abstimmungsergebnis beanspruchen.
Dabei ist klar, wem der Erfolg gehört. Mindestens die Schlagzeile vom «Bund» lässt es erahnen: «Bauernverband beansprucht Erfolg für sich». Nur der Titel des Kommentars ist weniger schmeichelhaft: «Solche Vorlagen bitte nicht mehr.» Journalist Fabian Renz schreibt darin, dass es sich das Parlament nicht zur Gewohnheit machen sollte, Vorlagen wie den Gegenvorschlag zur Ernährungssicherheitsinitiative auszuarbeiten. Hauptsächlich, wohl deshalb, weil «das Abstimmungsergebnis die agrarpolitische Debatte des Parlaments kaum beeinflussen wird.»
Grundsätzlich stützt Bevölkerung die Landwirtschaft
Ähnliches schreibt die «Südostschweiz» unter dem Titel «Schweizer Volk gibt den Bauern Rückendeckung». Gleichzeitig legt die Autorin des Artikels, Charlotte Walser, nahe, dass der eigentliche Streit um die künftige Ausrichtung der Landwirtschaft erst richtig lanciert ist. Die Deutungshoheit könne niemand alleine für sich beanspruchen. Ausserdem sei nicht damit zu rechnen, dass der neue Verfassungsartikel in künftigen Diskussionen über Marktöffnung und Wettbewerb eine zentrale Rolle spielen würde. Grund für die geringe Wirkung seien die unterschiedlichen Interpretationen desselben Texts. So ist auch wenig überraschend, dass Südostschweiz-Bundeshausredaktor Dennis Bühler in seinem Kommentar fragt: «Ausser Spesen nix gewesen?» Darin führt er an, dass es am Abend der Abstimmungen normal sei, das Volksverdikt unterschiedlich zu interpretieren. Allerdings würde der Verfassungsartikel für mehr Unsicherheit statt Klärung sorgen, weil «sich jede in landwirtschaftliche Fragen involvierte Interessensgruppe zukünftig auf diesen Verfassungsartikel berufen wird.»
Die «Neue Zürcher Zeitung» titelt nüchtern: «Glasklares Ja zum Artikel über Ernährungssicherheit». Und wie im «Bund» und in der «Südostschweiz» wird auch in der NZZ darauf hingewiesen, dass der neue Verfassungsartikel jedem Geschmack etwas böte. Die Zeitung verzichtete diesmal auf einen Kommentar, hat aber in der Vergangenheit sehr dezidiert gegen den neuen Artikel Position bezogen. Der «Blick» titelt: «Sattes Ja zu den Bauern» und schreibt im Schlusssatz: «Es ist für jeden Geschmack etwas dabei.»
hja