Im verschneiten Peist, unweit von Arosa, treffe ich ihn an einem Februartag an, den freundlichen Bündner Bauern. Ich darf Peter Jäger einen Nachmittag lang begleiten. Vier Be
samungen stehen an. Sofort machen wir uns auf zum ersten Hof. Unterwegs treffen wir zufällig auf unseren zweiten Kunden. Ein knapper Wortwechsel durch die heruntergelassenen Autoscheiben besiegelt den Termin «nachher». Eine Uhrzeit scheint nicht nötig zu sein. Man kennt sich, weiss schon lange, wie das Gegenüber tickt.


Vom Genossenschaftsstier zur Pipette


Angefragt, ob er die Aufgabe der Besamungen übernehmen will, wurde er 1974 vom Tierarzt. Der damals 22-jährige Peter Jäger war kurz davor, den elterlichen Betrieb zu übernehmen und konnte einen Nebenverdienst gut gebrauchen. Er machte die Ausbildung noch im gleichen Jahr, in dem er zusagte. Er wickelte einzelne Besamungen ab im Jahr. Denn die Mehrheit der Viehzüchter arbeitete noch mit dem Genossenschaftsstier. So hatten hunderte Kälber in der Region die gleiche Blutlinie.


Durch die künstliche Befruchtung (KB) wurde die Konkurrenz untereinander gesteigert. So waren es denn auch die Ehrgeizigsten unter den Landwirten, die sich zuerst an die KB heranwagten.

Peter Jäger fährt direkt vor den Stalleingang seines ersten Kunden. Bauer Peter Sprecher hat das Auto von Weitem erkannt und steht schon bereit.

Der Wert des persönlichen  Kontakts ist nicht messbar


Ein eingespieltes Team, das merke ich sofort. Peter Jäger ist ein routinierter Besamer. Er arbeitet sauber und exakt und vergisst dabei nicht, mit dem Viehzüchter ein freundschaftliches Gespräch oder eine kleine Fachsimpelei zu führen. Er misst die Zeit nicht, die er auf dem Hof verbringt.

Bezahlt wird er für gerade mal 12 Minuten pro Besamung. Während der Kunde aus dem Katalog wählt, welcher Stier Vater werden soll, bereitet Jäger die Pipette vor und untersucht per Hand und Auge die Geschlechtsgesundheit und Fruchtbarkeit des Tiers. Die Samen sind bei –196 C gelagert, in seinem Kofferraum. Nach der Wahl des Spenderstiers nimmt Jäger geschickt das gewünschte Röhrchen voller Samen aus dem flüssigen Stickstoff, erwärmt es auf Körpertemperatur und führt es mit Hilfe der Pipette in die Gebärmutter ein. Danach werden die gebrauchten Utensilien, der Plastikhandschuh und die Pipette, entsorgt, und die Kuh kommt zurück in den Stall.


Vom Misstrauensobjekt  zum Erfolgsfaktor


Obwohl bei einem Natursprung die Erfolgsquote höher ist, wurden mit der Zeit die Vorteile der KB sichtbar: Kein Stier musste das ganze Jahr durchgefüttert werden, um in ein paar Monaten im Jahr seinen Einsatz zu leisten. Schliesslich gehen in Peist und Umgebung alle Zuchttiere zur Alp, also muss die Abkalbung im Herbst erfolgen.

Zudem konnte schon damals der Samen von den besten Stieren bestellt und somit die eigenen Zuchtziele exakter abgestimmt werden. Dies zeichnete sich bei der Milchleistung, der Fruchtbarkeit und dem Körperbau ab. Innert zweier Jahrzehnte wurde die KB zu dem Erfolgsfaktor für fast jeden Landwirt.

Mittlerweile sind auch Fleischrassen dazugekommen, wo am Anfang fast nur Milchvieh gewünscht war. Das Verhältnis Milch- zu Fleischrassen liegt heute bei 50 Prozent. Zumindest in Jägers Gebiet.

Ein denkwürdiges Ereignis in seiner Besamer-Karriere


Peter Jäger hatte «Anfängerglück», wie er meint. Oder ein gutes Händchen. Bereits die ersten Besamungen führten zum gewünschten Ergebnis, und so machte er weiter. Andere hatten bald wieder aufgehört. Lediglich an ein Unglück erinnert er sich, vier Wochen nach seiner ersten Besamung, das ihn sogar beinahe das Leben kostete. Er war an einem Tag nach einem nächtlichen Feuerwehreinsatz und einem ganzen Tag auf seinem Betrieb an der Arbeit. Nachdem der Stall gemacht war, es dunkelte bereits, fuhr er mit seinem Auto auf einem Bergsträsschen, unterwegs zu einem Besamungsauftrag. Da passierte es. Er nickte kurz ein während der Fahrt und kriegte die Kurve nicht. Das Auto, mit ihm auf dem Fahrersitz und dem Kühlkessel im Kofferraum überschlug sich und landete ein paar Meter weiter unten in der Weide. Da lagen sie nun, die Samen, in der Wiese. Er selber kam mit ein paar Schrammen davon, und die verlorenen Samen konnte er glücklicherweise bei der Ver
sicherung geltend machen. Den Schreck, erzählt er mir, vergesse er aber nie mehr.

Durch sein Amt als Besamer hat er auch seine Frau kennengelernt. Diese war nämlich auf einem Hof, der ihn beauftragt hatte, angestellt. Die Bäuerin des Hofs tat das ihre dazu und die beiden trafen sich, heirateten und schenkten vier Kindern das Leben. Peter Jäger ist ein gutmütiger Mann. «Mit dem Geld fürs Besamen konnte ich immer ohne schlechtes Gewissen etwas für meine Kinder kaufen», berichtet er. Und das nimmt man ihm ab. Er gehört zu den Menschen, die sich in den Dienst seiner Nächsten stellt.

Vom Fachmann zum Dienstleister


In den Achtzigern waren die Rinder noch in kleineren Ställen auf den Weiden verteilt, und mehrere Landwirte brachten ihre stierigen Tiere zu einem bestimmten Termin zu einer zentralen Scheune. So konnte Peter Jäger jeweils mehrere Aufträge gleichzeitig erledigen. Heute ist das undenkbar. Die Tierbestände der einzelnen Landwirte stiegen an. Zentralställe wurden gebaut. Der Trend aus dem Tal, wo die Besamer schon länger direkt auf die Höfe gingen, um ihres Amts zu walten, kam auch in den höheren Lagen an. Und so wurde der Besamer immer mehr zum Dienstleister.


Beinahe Tag und Nacht steht der mittlerweile 62-Jährige im Dienst. Zur Saison vom Dezember bis in den März hinein weiss er meist am Morgen noch nicht, wo ihn der heutige Tag überall hinführt. Ein Telefon genügt, und er kommt alsbald möglich vorbei. Ist der Trächtigkeitszeitpunkt erreicht, geht es um Stunden. Das heisst für ihn auch, dass er ständig unter Strom steht. Er muss oft umorganisieren und flexibel bleiben. Sein jüngster Sohn, den ich bei einem Tee in Jägers Küche kennenlerne, kommentiert: «Er kann auch nicht Nein sagen.»

Durch die Arbeit an Weitsicht gewonnen


Doch obwohl ihm diese Arbeit keinen finanziellen Segen bringt, sondern stets nur einen Zusatzverdienst erwirtschaftete, macht er sie gern. Er schätzt den Kontakt mit allen Viehzüchtern von Arosa bis Castiel. Er mag die Abwechslung im Alltag, und sein Herz schlägt für die Tiere und die Zucht. Dabei sieht er auch, wie jeder Landwirt anders arbeitet und konnte sich auch für seinen Hof inspirieren lassen. Nicht umsonst war Peter Jäger einer der Ersten in der Gegend, der einen Laufstall baute. Er ist durch seine Arbeit am Draht der Zeit. Ist gern gesehen bei seinen Arbeitskollegen und erhält auch an Viehschauen immer wieder Anerkennung für sein Tun und sein Wissen.


25 000 Kälbern hat er in seiner 40-jährigen Karriere zum Leben verholfen. Ob er Papa-Gefühle zu den Kälbern hege, frage ich ihn. Er lacht, aber natürlich mache es ihn schon stolz zu sehen, dass fast jedes der Kälber in der Umgebung von ihm stamme.


Nadine Baumgartner