Alfred Ryter ist ein grosser, schlanker Mann mit aufmerksamen, blauen Augen. Er wirkt unscheinbar, fast schüchtern. Am 7. August 2015 wird er 75. Und er wird ziemlich sicher auch an diesem Tag Antidepressiva nehmen müssen. «Im Alltag sind es 16 Pillen», sagt er im Gespräch. Sein Arzt sagt, es sei Gehirndünger, damit sein Seelenleben stabil bleibe. Grund dafür ist seine Vergangenheit. Seine Vergangenheit ist die Geschichte eines Verdingkindes, das ab seinem achten Lebensjahr auf Höfen im Berner Oberland verdingt wurde.


Die Geschichte ist immer präsent


Obwohl es ihm gelang, für sich, seine zwei Kinder und seine Frau zu sorgen, holt ihn diese Vergangenheit oft ein. Die Erlebnisse im Loo bei Frutigen BE belasten ihn auch heute noch am stärksten. Dort wurde er geschlagen; wenn ihm ein Fehler unterlief wurde er bei Wasser und Brot gehalten. Ihm wurde der Familienanschluss verwehrt – schlafen musste er in einem Tenn.

Dass Alfred Ryter überhaupt über seine Geschichte reden kann, dass er heute niemanden für das verurteilt, was ihm damals wiederfahren ist, hat lange Zeit benötigt und war ohne Hilfe nicht möglich. Denn entscheidende Fortschritte machte Ryter erst, als er sich in psychiatrische Behandlung begab. «Da war ich aber schon über 50», sagt er. Praktisch monatlich sei er in Behandlung, und mit den Medikamenten gehe es besser, meint er. Doch mit dem Beginn der psy­chi­atrischen Behandlung begann für Ryter und seine Familie eine schwierige Zeit. «Da sind bei mir alle Erinnerungen hochgekommen», sagt er heute.  


Notizen helfen, das Chaos im Kopf zu ordnen


Erinnerungen an die Zeit auf den Höfen, die zahlreichen Demütigungen und die kleinen Glücksmomente, wenn sich Alfred Ryter mit seinen Brüdern treffen konnte, die damals ganz in der Nähe verdingt wurden.

Damit er seine Erinnerungen besser ordnen konnte, begann er, sie aufzuschreiben. Und das habe ihm geholfen, seine schwierigen Jugendjahre zu bewältigen. Erst durch die Auseinandersetzung mit seiner Geschichte war es ihm möglich, sich selbst zu erklären. Erst dann konnte er auch seiner Frau erklären, was überhaupt mit ihm los war. Er konnte endlich erklären, warum er oft wochenlang nicht mit Frau und Kindern gesprochen hat. Und seit zwei Jahren könne er endlich seiner Frau sagen, dass er sie gern habe. «Vorher war das nie möglich.» Für ihn spiele es keine Rolle, wie lange ein Kind verdingt war, erzählt Ryter. «Was entscheidend ist, sind die Erlebnisse und einzelne Momente, die ein Trauma verursachen.»


Ryter liest aus seinen Notizen eine Passage vor: «Beim Hinstellen der Milch auf den Tisch streifte ich mit dem Kessel die Tischkante – und liess ihn fahrlässig zu Boden fallen (…). Der Feriengast bemerkte zur Bäuerin: ‹Einen solchen ‹Sausiech› und Nichtsnutz müsse Sie noch durchfüttern! Werft ihn ins Tenn und lasst ihn dort bis er ‹verreckt›. Niemand wird nach ihm fragen.› Ich wurde daraufhin (…) ohne Essen ins Tenn eingesperrt.» Heute noch sei besonders an Ostern diese Erinnerung sehr präsent, erzählt Ryter.  

Wiedergutmachung heisst in erster Linie nicht Vergessen

Er sagt auch, dass er nicht unbedingt auf Geld angewiesen ist. «Für andere ist das sicher gut, und die haben es auch bitternötig. Aber was nützen mir 20 00 Franken? Was nützt mir eine Entschuldigung von Frau Sommaruga?», fragt er. Für ihn sei es viel berührender, wenn er seine Geschichte in einer Schulklasse erzählen dürfe.

Seine Augen leuchten, als er von der Begegnung mit einer Schulklasse in Alpnach berichtet. Dort habe er während eines Nachmittags seine Geschichte erzählt. «Die Schüler haben sich auf das Treffen vorbereitet, hatten am Morgen den Film ‹Der Verdingbub› geschaut», erzählt Ryter, «und haben bei meinen Ausführungen doch leer schlucken müssen.»


Das Zeitzeugnis, ist Alfred Ryter überzeugt, hat die Schüler mehr berührt als jeder Film, jeder Bericht. «Und das müssen wir machen.» Die Geschichten müssten erzählt werden, sagt er.

Dazu sei aber eine Aufarbeitung im kleineren Rahmen nötig, erklärt Ryter. Die Öffentlichkeitsarbeit über grosse Zeitungen sei schwierig. Und Ryter fragt sich, wer sich überhaupt für die Geschichten interessiert. «Heute werden wir mit Kriegsnachrichten, mit Krisenmeldungen bombardiert. Wer interessiert sich da noch für etwas, was vor 50 Jahren geschehen ist?», fragt er.

Gerade wegen dieses kleinen Rahmens hat der runde Tisch des Bundes für Ryter einen hohen Stellenwert. Denn auch dort würde man zuhören, wenn eine Geschichte erzählt wird.

Trotzdem stehen diese Gespräche am Ende eines langen  Prozesses gegen das Vergessen. Und das treibt auch Ryter an: «Für mich ist wichtig, dass es nicht vergessen geht.» Deshalb braucht es Zeitzeugen, die von ihren Erlebnissen berichten.

Hansjürg Jäger