Nach längerer Sendepause – ein Elefant hockte hartnäckig auf dem Glasfaserkabel – nun also wieder mal ein paar Eindrücke und Gedanken aus Sambia. Eigentlich sollte ich ja über sambische Kühe, Agroforstwirtschaft mit Leguminosenbäumen und faszinierende Wildtiere berichten. Aber das geht angesichts der dramatischen Entwicklung hier gerade nicht.
Inflation – das ist, wenn Geld plötzlich an Wert verliert und die Preise für Konsumgüter entsprechend steigen. In Sambia, das zu den „am wenigsten entwickelten Ländern“ gehört, ist die jährliche Inflationsrate von 7.7% im September auf 14.3% im Oktober angestiegen. Die Lebensmittel werden spürbar teurer. Viele SambierInnen trifft dies hart, denn bedingt durch die Inflation befinden sich die Reallöhne im Sinkflug. Eine Sambierin verdient gleich viel, oder eher: gleich wenig, wie zuvor, kann sich mit ihrem Lohn aber immer weniger kaufen. Der Währungszerfall ist in Sambia umso verheerender, weil viele verarbeitete Gebrauchsgüter importiert, in US-Dollar gehandelt und entsprechend der Inflation teurer werden.
Die sambische Währung Kwacha hat seit meiner kurzen Zeit hier gegenüber dem US-Dollar (und dem Schweizer Franken) um über 50% an Wert verloren! Das wirkt sich gravierend auf die Schuld- und Zinslast des Landes aus, denn die Schulden werden in US-Dollar gemacht. Ich erinnere mich an den Aufschrei der Schweizer Exportwirtschaft angesichts der Aufhebung des Euro-Mindestkurses im Frühjahr 2015. Wohlstandsgejammer in einem der weltweit reichsten Länder – anders kann ich es aus hiesiger Warte betrachtet nicht ausdrücken. Meine Nachbarin – ihr Mann ist immerhin Projekt-Assistent am KATC – sagte mir, ihre Familie sei noch einen Monat „away from poverty“ (von der Armut entfernt). Das heisst, dass sie sich folgende Fragen stellen muss: Wie oft können wir uns noch Fleisch leisten? Wie bezahlen wir die Medikamente für die kranke Grossmutter, wie die Schuluniformen für die Kinder? Vermögen wir es, eines unserer Kinder in eine weiterführende Schule zu schicken?
Natürlich sind die Probleme zum Teil haus- bzw. staatsgemacht. Das grösste Versagen der sambischen Regierungen der letzten Jahrzehnte besteht darin, die „Wirtschaft“ einseitig auf den Export von Rohstoffen ausgerichtet zu haben. Kupfer macht 70 Prozent der sambischen Exporteinnahmen aus. Sind die Kupferpreise auf dem Weltmarkt wie gegenwärtig im Keller, schlägt dies voll auf die Wirtschafts- und Soziallage des Landes durch. Die Regierungen haben den beschäftigungsreichsten und im Prinzip existenziellsten Wirtschaftssektor in Sambia, die nicht-industrielle Landwirtschaft, vernachlässigt. Wo sie nicht vernachlässigt wurde, hat man sie mit falschen Ansätzen „unterstützt“: Subventionierung von Kunstdünger und Hybridsaatgut; einseitige Förderung des Maisanbaus. Ebenso sträflich wirkt es sich aus, dass Sambia keine nennenswerte verarbeitende Industrie aufgebaut und den Stromsektor miserabel unterhalten hat. Die tägliche Stromrationierung vernichtet massiv Beschäftigung und Einkommen.
Hilfe wird nun von aussen und von oben erwartet. Die sambische Regierung braucht dringend Kredite. In der gegenwärtigen Krise fallen die Kreditbedingungen aber alles andere als vorteilhaft für das Land aus, zumal Sambia von den Rating Agenturen herabgestuft wurde. Für Eurobonds – auf dem internationalen Finanzmarkt platzierte mittel- und langfristige Staatsanleihen – werden bei schlechterem Rating höhere Zinsen verrechnet. Eurobonds werden in US-Dollar ausgegeben und können bei weiter ansteigender Inflationsrate unbezahlbar werden. Zudem kann Sambia bei Zahlungsunfähigkeit hier nicht auf eine Entschuldungsinitiative hoffen. Multilaterale Institutionen wie der Internationale Währungsfonds andererseits machen ihre Kredite stets von einer strikten Sparpolitik abhängig – was meist gleichbedeutend mit Kürzungen im Sozialbereich ist.
In dieser verfahrenen Situation ruft der sambische Präsident den lieben Gott um Erlösung von der volkswirtschaftlichen Misere an. Kurzerhand deklarierte er den 18. Oktober zum nationalen Tag des Gebets (ein neuer Feiertag kommt bei den WählerInnen immer gut an) und betete in einer Parkanlage mit Tausenden politischen AnhängerInnen um eine göttliche Intervention – als ob der liebe Gott den Wechselkurs, die Kupferpreise und das Haushaltsdefizit bestimmen würde. Es sind nicht nur böse Zungen, die behaupten, diese Inszenierung diene der Regierung dazu, ihr wirtschaftspolitisches Versagen zu vertuschen. 2016 finden in Sambia Wahlen statt...
Wer will in ein solches Land noch investieren, könnte man fragen. Ich frage grundsätzlicher: Wie soll ein von Konkurrenz und Wettbewerb getriebenes, globales Wirtschaftssystem nur Gewinner hervorbringen können? Alle Länder wollen Exportüberschüsse erzielen und Devisen ins Land holen. Es gibt Gewinner, weil es Verlierer gibt. Der globale Markt ist kein Wohlfühlort und die Multis sind keine karitativen Stiftungen. Am Ende des Tages wollen die Aktionäre „Mehrwert“ sehen: Aktienwertsteigerung und Dividende. Also werden Wirtschaftssektoren privatisiert, Rohstoffe geplündert, Märkte erobert und die Profite in einen sicheren Hafen gebracht. Alles nur kapitalismuskritische Phrasendrescherei?
Nehmen wir das Beispiel Glencore. Der Rohstoff-Multi mit Sitz im Steuerparadies Baar/ZG konnte sich die Mopani-Kupfermine im sambischen Copperbelt im Jahr 2000 unter den Nagel reissen, weil der Internationale Währungsfonds zuvor eine „Finanzhilfe“ für Sambia von der Durchsetzung eines sogenannten Strukturanpassungsprogramms abhängig gemacht hatte. Unter anderem forderte dieses die Privatisierung des Minensektors. Jahrelang hat die Glencore-Tochter Mopani in Sambia trotz rekordhoher Kupferpreise auf dem Papier Verluste ausgewiesen und dem sambischen Fiskus deswegen nie Gewinnsteuern abgeliefert. Der hüben wie drüben angewendete Steuervermeidungstrick nennt sich „Transfer pricing“ und ist „courant normale“ auf dem Weltmarkt. Als geneigter Profitmaximierer verrechnet man für die zwischen verschiedenen Gesellschaften eines Konzerns ausgetauschten Güter und Dienstleistungen einen innerbetrieblichen Preis. Material- und Maschinenlieferung an den Minenbetreiber werden viel zu teuer ausgewiesen, die geförderten Rohstoffe hingegen fliessen zu einem Dumpingpreis in die Rechnung ein. So lassen sich die Gewinne auf wundersame Weise dahin transferieren, wo kaum Unternehmensgewinnsteuern anfallen, z.B. in gewisse Schweizer Kantone. Willkommen in der Realität des Weltmarkts, wo die sagenhafte „unsichtbare Hand“ regiert!
Nun herrscht aber wie gesagt Flaute auf dem globalen Kupfermarkt, weil die Chinesen gerade nicht mehr so viel nachfragen. In Sambia wird der Strom rationiert und soll zudem teurer werden. Nach den fetten Jahren also schlechte Gewinnaussichten für die Bergbaukonzerne. Glencore nimmt dies zum Anlass, um die Mopani-Mine für 18 Monate auf Eis zu legen – als Beitrag zum Abbau einer 30-Milliarden-Schuld, wie Glencore verlauten liess. Kürzlich wurden also 4300 Minenarbeiter auf die Strasse gestellt. Weitere Entlassungen sollen folgen. Vom Einkommen der 4300 Entlassenen hängen 4300 sambische Grossfamilien ab. (In einer Zeitung habe ich gelesen, dass ein sambischer Arbeiter mit seinem Lohn durchschnittlich zwanzig andere Menschen unterstützt.) Einen verzwickten Trost hat die Geschichte: Solange die Mopani-Mine stillsteht, werden die Menschen und die Umwelt in Mufulira, wo das Kupfer verhüttet wird, nicht zusätzlich mit giftigem Schwefeldioxid belastet. – Der globale Kapitalismus stellt viele vor die Wahl zwischen Pest und Cholera. Arbeitslosigkeit oder Krankheit? Armut oder Umweltzerstörung?
Und während die SambierInnen rund um mich herum von der Makroökonomie gebeutelt werden, lese ich von Flüchtlingszügen in Europa, von einem „Erdrutschsieg“ der SVP, von den Terroranschlägen in Paris und von der Bombardierung syrischer Städte. Wie hängt das alles zusammen: Nationalismus, Krieg, Terror, Migration? Die verrückte Gegenwart ist das Ergebnis der geopolitischen Geschichte, in der die „westlichen“ Staaten eine dominante Rolle spielten. Sklaverei, Kolonialismus und Imperialismus hallen in der globalen Gegenwart nach. Und die Plünderung setzt sich in Form neoliberaler Politik und von Ressourcenkriegen fort.
Böse, schlechte Welt, da draussen. Aber machen wir uns nichts vor: die Schweiz war und ist daran beteiligt. Wenn es ums Geschäft geht, rücken Neutralität und humanitäre Tradition regelmässig in den helvetischen Hintergrund, so etwa beim Sklavenhandel, beim Nazi-Gold, bei den Diktatorengeldern, beim Bankgeheimnis oder bei den Waffenexporten in Länder, die Menschenrechte systematisch und schwerwiegend verletzen. Kleines Beispiel aus der jüngeren Schweizer Geschichte gefällig? Ein gewisser Grossindustrieller und SVP-Politiker, der später Bundesrat werden sollte, unterstützte das Apartheidregime als Gründer und Präsident der „Arbeitsgruppe südliches Afrika“ in den 1980er Jahren nicht nur ideell. In seiner Funktion als Verwaltungsrat der EMS-Patvag scheute er sich nicht davor, mit Apartheid-Südafrika auch Rüstungsgeschäfte zu machen.
Und während Helvetia das Kapital stets gerne an Bord holt, ist das Boot der rechtsnationalen Hardliner für die Flüchtlinge immer schon zu voll. Der Präsident der stärksten Partei der Schweiz beantwortete kürzlich die Frage der deutschen Zeitung „Die Zeit“, wie viele Flüchtlinge pro Jahr die Schweiz problemlos aufnehmen könne, mit „100.“ Derweil spielt sich in Syrien die grösste Flüchtlingskatastrophe in der modernen Geschichte des Nahen Ostens ab. Und das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen verzeichnete für das Jahr 2014 fast 60 Millionen Menschen auf der Flucht – so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.
Man muss nicht nach Sambia oder sonst wohin gehen, um für Gerechtigkeit und für die Gleichheit aller – egal welcher Hautfarbe, Herkunft und Religion – einzustehen. Die Konflikte auf dieser verrückten Welt verlaufen quer durch die Länder und Gesellschaften. Indem ich mich der sozialen Realität der „Verdammten dieser Erde“ aussetze, treten mir die Verwerfungen hier aber als spürbarere Wirklichkeit entgegen als in der Schweiz.
PS: Die Mangobäume zeigen sich der sambischen Wirtschaftskrise gegenüber unbeeindruckt. Die köstlich süssen, fruchtfleischigen Früchte verströmen ihren Geruch entlang der Strassen, in Gärten, in Schulhöfen, um die Dörfer, im Busch und in den Feldern, wo die SambierInnen derzeit ihren Mais, ihre Erdnüsse und Kürbisse anbauen. Niemand wässert und düngt Mangobäume, niemand sprayt Pestizide auf ihre Blätter oder Früchte. Oft werden Mangobäume nicht einmal gezielt gepflanzt. Sie gedeihen überall da, wo schlemmende Menschen und Tiere den Mangosamen auf einem Fleck fruchtbarer Erde liegen lassen.
Markus Schär