Margrit steht mit beiden Beinen im Leben. Und doch fühlt sich die 51-jährige Bäuerin, die  im Berggebiet der Ostschweiz lebt, wie «amputiert». Ihr Mann Peter hat sich drei Wochen nach ihrem fünfzigsten Geburtstag das Leben genommen. «Obwohl der Tod von Peter nun schon neun Monate zurückliegt, habe ich das Gefühl, immer noch irgendwie ‹neben mir› zu stehen. Ich glaube, ich habe den Schock noch nicht verdaut.»

Eine harmonische Beziehung


Margrit erzählt: «Peter und ich fühlten eine tiefe Liebe füreinander. Peter war mir ein sehr liebevoller Ehemann und unseren drei Töchtern ein toller Vater. Immer war er für uns da. Wir konnten uns auf ihn verlassen.» Für die erwachsenen Töchter sei Peter wie ein liebevoller Kollege gewesen.


Es gab keine Anzeichen dafür, dass er sich umbringen würde. Peter habe in den Wochen vor seinem Tod dann und wann gesagt, dass er müde sei, dass er nicht immer über die vollen Kräfte verfüge. «Wir hatten in den Monaten vor Peters Tod grosses Pech im Stall. Ein Virus sorgte gar für Abgänge. Peter hing an seinen Tieren, ich spürte, dass ihn die Krankheit der Kälber beschäftigte.» Am Tag vor dem Selbstmord unternahmen Margrit und Peter einen langen Spaziergang. Sie diskutierten über Gott und die Welt, die Stimmung sei gelöst und gut gewesen.


Am nächsten Morgen habe sich Peter wie immer verabschiedet. Er habe noch Sachen in den Stall mitgenommen, die er in den nächsten Tagen benötigt hätte, erzählt Margrit.

Ein Selbstmord aus heiterem Himmel


Kurz danach geschah das Unfassbare. Peter müsse in den Stall gekommen sein und gesehen haben, dass wieder zusätzliche Kälber krank sind. «Es muss ihm für einen Moment ‹ausgehängt› haben, er muss für einen Augenblick nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen sein. Er ging hin und brachte sich mit einem Strick um. Glücklicherweise war es nicht ich, die ihn gefunden hat. Ich glaube, ich hätte das nicht auch noch ertragen können.»


Ein Nachbar, der mit ihm einen Termin vereinbart hatte, wunderte sich, dass der pünktliche Peter nicht rechtzeitig da war. Er sah Licht im Stall und suchte ihn auf. In der Tenne fand er den toten Peter. Margrit erzählt: «Ein Care-Team kam und begleitete mich an den Unglücks­ort. Ich habe nicht einmal die Hälfte mitbekommen, was los war. Ich konnte nicht glauben, was war. Peter sah so friedlich aus – wie schlafend.»

Der Tod des Vaters sei auch für die Töchter ein schlimmer Schlag gewesen. «Wir standen gemeinsam um den Vater und Mann, niemand konnte ein Wort sprechen, es war einfach unendlich traurig.»


Glauben an ein Wiedersehen


Margrit erzählt, dass sie den Tod ihres Mannes am ersten Tag nicht richtig realisiert habe. Am zweiten Tag aber umso mehr. Das ganze Elend habe sie eingeholt. «Ich fragte mich immer wieder, warum Peter keinen Ausweg mehr sah. Ich konnte die Situation drehen und wenden wie ich wollte, ich kam immer zum selben Resultat: Der Selbstmord Peters war eine Kurzschlusshandlung. Es konnte nicht anders sein. Wir hatten immer alles zusammen besprochen; Peter hätte mir gesagt, wenn er so schlecht ‹zweg› gewesen wäre, dass er den Suizid plante.»


Jetzt sind neun Monate vergangen. Margrit berichtet, dass sie Peter immer noch täglich vermisse. «Ich spreche viel mit ihm, frage, wie er wohl dieses oder jenes lösen würde. Ich glaube daran und hoffe darauf, dass ich ihn irgendwann an einem anderen Ort wiedersehe.»


Versicherung zahlt keine Rente


Peter arbeitete mehr als acht Stunden wöchentlich im Nebenerwerb als Zimmermann. Irgendwann schrieb die Versicherung, dass für die hinterbliebene Ehefrau leider keine Rente ausgerichtet werden könne, weil Peter seinen Tod absichtlich herbeigeführt habe. Für Margrit fiel eine Welt zusammen.


«Es ging mir nicht in erster Linie ums Geld. Viel mehr störte mich die Diskriminierung. Mir war überhaupt nicht klar, weshalb ich die Rente nicht bekommen sollte, wenn doch mein Mann Selbstmord verübt hatte. Ich rief bei der Versicherung an und verlangte Erklärungen.»

Ein Mitarbeiter der Versicherung sei vorbeigekommen und habe ihr gesagt, dass sie keine Chance habe, eine Rente zu bekommen, denn Artikel 37, Absatz 1 der Unfallversicherungsgesetzes sage Folgendes: «Hat der Versicherte den Gesundheitsschaden oder den Tod absichtlich herbeigeführt, so besteht kein Anspruch auf Versicherungsleistungen, mit Ausnahme der Bestattungskosten.»

«Das ist diskriminierend»

«Ich war am Boden zerstört, konnte nicht verstehen, wieso ich die Folgen des Handelns meines Mannes spüren muss.» Bei der Krankenkasse habe eine Versicherung für die Beerdigungskosten bestanden. Auch diese Zahlung wurde Margrit mit dem selben Argument verweigert. Bis sie eine schriftliche Begründung verlangte. «Da konnte die Versicherung plötzlich zahlen. Für mich ist das diskriminierend.»


Gutachten und Gegengutachten


Weil Margrit sich mit den Aussagen des Mitarbeiters der betroffenen Versicherung nicht einverstanden erklärte, bekam sie erneut Besuch. Diesmal von einem Psychiater, der durch die Versicherung aufgeboten worden war. Er sagte, gemäss Artikel 48 des Unfallversicherungsgesetz stelle sich die Frage, ob Peter zurzeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln.


«Er erklärte mir, wenn Peter beispielsweise sehr stark betrunken gewesen wäre, die Versicherung ihre Leistungen erbringen müsste. Leider sei das nicht der Fall gewesen. Es sei sehr schwierig zu beweisen, dass Peter die Tat nicht geplant, sondern im Affekt gehandelt habe. Ich verstand die Welt nicht mehr und suchte einen Anwalt auf, um mit ihm die Angelegenheit anzuschauen.»


Nach der Prüfung der Situation ermunterte er Margrit, nicht aufzugeben. Ein renommierter Psychiater musste ein neues Gutachten bezüglich des Suizids von Peter erstellen. Dieses ist zu einem anderen Schluss gekommen. Es sagt, dass der Suizid nicht geplant gewesen sei – also im Affekt geschah – und deshalb die Versicherungsleistungen ausgerichtet werden müssen.


Das Resultat ist offen. Margrit sagt: «Das Geld ist nur die eine Seite der Geschichte, für mich ist mindestens so schlimm, dass man als hinterbliebene Ehefrau die Folgen eines Suizids tragen muss, an dem man keine Schuld hat. Aus meiner Sicht ist das diskriminierend. Eigentlich sollte in der Schweiz doch niemand schuldlos diskriminiert werden, oder?»


Agnes Schneider Wermelinger