Jede Stufe knarzt und der Verputz im Treppenhaus hat schon bessere Zeiten erlebt. Doch das tut dem Charme der altehrwürdigen Fabrikantenvilla in Bauma keinen Abbruch, im Gegenteil. Das Gebäude mit seinen hohen Decken und den holzgetäferten Räumen wirkt einladend und behaglich.
Seit 91 Jahren ist hier das Heimatwerk Zürcher Oberland untergebracht. Der Betrieb wurde damals zur Förderung der Heimarbeit gegründet. 1928 waren die Milchpreise im Keller, eine Katastrophe im landwirtschaftlich geprägten Tösstal.
«Das Weben half vielen Bauernfamilien zu überleben», weiss Markus Dobrew. Der Designer und Marketingfachmann ist seit drei Jahren Geschäftsführer der Genossenschaft.
Starke Konkurrenz
Das Unternehmen sucht seit einigen Jahren neue Wege, seinen Fortbestand zu sichern. Denn auch für eine Non-Profit-Organisation ist die Konkurrenz durch Wegwerftextilien und billige Produkte aus dem Ausland riesig.
Bis in die 1990er-Jahre waren die handgewebten Stoffe aus dem Zürcher Oberland für Trachtenschürzen sehr gefragt. Heute geben gerade junge Frauen oft feschen Kunstfaser-Dirndln aus dem Versandhandel den Vorzug.
Wo passt die Tracht?
Die Kosten seien ein Grund dafür, meint Markus Dobrew. «Wertige Stoffe werden geschätzt. Da es viele Hobby-Weberinnen gibt, sind die Leute es nicht gewohnt, einen angemessenen Preis dafür zu bezahlen. Unsere Profi-Weberinnen bekommen hingegen einen Lohn.»
Für ihn stellt sich bei einer Tracht zudem die Frage: Wann ziehe ich sie an? «Die passenden Anlässe sind rar.» Mit einem Dirndl könne man in jedes Bierzelt.
In Österreich und Bayern sieht es anders aus, dort gibt es einen etablierten Markt für hochwertige Landhaus- und Trachtenmode. «Etwa Gössl in Salzburg. Das ist wie Gucci für die Trachtenszene.»
Eigenes Label
Das Heimatwerk Zürcher Oberland geht daher seit einiger Zeit neue Wege, entwickelt mit dem Label «vo-hand» eigene Produkte. Wie das «Graubündel», ein Picknickdecken-Rucksack zum Zusammenknüpfen.
Mit diesem Design gewann das Unternehmen einen Wettbewerb für nachhaltige Souvenirartikel für die Tourismusregion Graubünden.
Zu den Kunden gehören vor allem gewerbliche Betriebe. So beliefert das Heimatwerk Zürcher Oberland zum Beispiel die Juckerfarm in Seegräben, das Heks oder die Trendbäckerei John Baker in Zürich. Mit Coop-Supercard-Punkten kann man Schuhsäcke oder Kirschkernsäckchen aus handgewebten Halbleinengewebe bestellen.
Die Genossenschaft fertigt aber auch Filtersäcke für einen Hersteller von Grastrocknungsmaschinen an. Je nach Bedarf übernimmt das Unternehmen für seine Kunden alle Arbeitsschritte, vom Entwurf übers Stoffbeschaffen bis zum Fertigen.
Aus alt wird neu
Ein eigener Online-Shop ist in Planung. Markus Dobrew und das Team entwickeln zudem Designs für den eigenen Laden, zum Teil aus alten Garn- und Stoffbeständen.
Wie die robusten Tücher aus stabilem Leinengarn, das früher für Feuerwehrschläuche verwendet wurde. «Die sind speziell für Männer gedacht. Wir konnten das Material vom Produzenten übernehmen, da es nicht mehr eingesetzt wird.»
Macht eine gute Figur
Eine der Eigenkreationen ist eine Trachtenschürze, die den strengen Vorschriften entspricht, aber durch eine geschickte Anordnung von Falten und Farben der Figur schmeichelt.
Oder ein zeitloser schwarzer Beutel mit Spitzenborte, für Handy und Portemonnaie. Dank verstellbarer Bänder kann er auch als Rucksäckchen getragen werden. «Das kommt bei Tracht und Jeansträgerinnen gut an.»
Der schmucke Laden im «Haus des Handwerks» ist im Erdgeschoss und im ausgebauten Kellergeschoss untergebracht. Genäht wird im ersten Stock.
Wirtschaftliches Denken
Hier sitzt Nidal Haidar an einer der Nähmaschinen, vor sich einen ganzen Stapel Brotsäcke. In seiner Heimat Syrien hat er als Akkord-Näher gearbeitet.
Das sei eine weitere Herausforderung, um wirtschaftlich zu überleben, sagt Markus Dobrew. Mitarbeiter zu finden, die bereit sind, in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Menge zu produzieren.
«In der Näherei und der Weberei müssen sich unsere Mitarbeiter mit der Frage auseinandersetzen: Wie organisiere ich mich, damit ich schneller werde? Das liegt längst nicht allen. Für Nidal Haidar gehört es zu seinem Arbeitsethos, so zu denken und zu arbeiten.»
Stiftung und Genossenschaft
Das operative Geschäft des Heimatwerks Zürcher Oberland führt die Genossenschaft. Dahinter steht seit 1996 eine Stiftung zur Erhaltung und Förderung des traditionellen Handwerks im Zürcher Berggebiet.
«Die traditionellen Trachtenstoffe und die modernen Wohntextilien in handgewebter, ausserordentlich hoher Qualität und Schönheit sollen für nächste Generationen erhalten bleiben», beschreibt die Organisation ihre Aufgabe.
«Das Ziel der Genossenschaft ist, schwarze Zahlen zu schreiben», erklärt Dobrew. «Doch für grosse, neue Projekte oder Renovationsarbeiten am Haus reichen unsere Einnahmen nicht.» Dafür braucht es die Stiftung.
Die Werkstatt der Handweberinnen
Die eigentliche Handweberei befindet sich einige Häuser weiter. Im hellen, weitläufigen Raum im oberen Stock stehen zehn Webstühle und eine grosse Zettelmaschine.
Einige der Webstühle konnten von Trachtenstoffwebereien übernommen werden, die eingegangen sind, oder sie stammen aus Klöstern, denen der Nachwuchs fürs Weben fehlt.
Zwei Weberinnen und eine Praktikantin sind hier tätig. Zu den aktuellen Projekten gehören Stoffe für Trachtenschürzen und handgewebte Brotkorb-Tücher für das renommierte Hotel Carlton in Zürich.
Weben mit den Füssen
Handweben bedeutet, auf verschiedenen Ebenen zu arbeiten: Mit Kopf und Gefühl, mit Händen, Armen und Füssen. Den Blick immer auf den Stoff und die Fäden gerichtet.
«Es braucht rhythmische, kontinuierliche Bewegung.», weiss Leiterin Katharina Osterwalder aus Erfahrung. Den Kopf darf man dabei auf keinen Fall ausschalten.
«Wir passen die Arbeit dem Material an. Rand, Fläche, Fadenstärke, Abmessung: Da der Rohstoff immer anders ist, muss man ständig aufpassen.»
Mit Schnellschuss
Der «Schnellschuss» am Webstuhl lässt die Schiffchen in zügigem Tempo hin und her sausen: Ein Seilzugverfahren, dass das Weben beschleunigt und die Herstellung von breiteren Stoffen ermöglicht.
«Es muss gleichmässig tönen, dann stimmst. Der Schnellschuss verlangt von uns Weberinnen eine ausgeklügelte Kombination von Tempogeben und Loslassen.»
Viel Vorarbeit
Zetteln, Aufbäumen, Einziehen, Verschnüren: Bevor mit dem eigentlichen Weben begonnen werden kann, braucht es viel Vorarbeit. «Für die Brotkorb-Tücher hatten wir allein zwei Tage, um die 2000 Fäden einzuziehen.»
Das Weben selbst geht dann zügiger vorwärts, doch auch hier dauert es rund einen Tag, um einen Meter Schürzenstoff zu weben.
Webstühle mit Charakter
«Wenn es gut läuft», schränkt Katharina Osterwalder ein. «Nicht nur das Material, auch jeder Webstuhl hat seinen eigenen Charakter. Da muss man sich als Weberin anpassen. Arbeitet man nicht harmonisch, regt man sich nur auf und kommt nicht vorwärts.»
Katharina Osterwalder ist seit fünf Jahren beim Heimatwerk. Die Vielfalt der Arbeit, der Produkte und der Materialien fasziniert sie.
«Unsere handgewebten Artikel kauft man nicht aus rationellen Gründen, sie haben fast etwas Magisches und eine besondere Wertigkeit. Sie sprechen eine archaische Sprache, die alle erreicht.»
Weitere Informationen:
Handwebereien in der Schweiz
In der Schweiz gibt heute noch drei professionell arbeitende Handwebereien, die auch Lehrlinge ausbilden. Neben dem Heimatwerk Zürcher Oberland sind das die Handweberei Tessanda Val Müstair in St. Maria im Münstertal und – ebenfalls im Kanton Graubünden – die Handweberei Tessitura in Poschiavo.