Dieser Artikel erschien im Magazin FrauenLand - welches per Juni 2021 eingestellt wurde.

Am Dorfbrunnen, zwischen liebevoll restaurierten Riegelhäusern in Gottlieben TG, wäscht eine junge Frau mit langer Lederschürze, Gummihandschuhen und -stiefeln fleckige Windeltücher aus.

Ein gewohnter Anblick: Seit zwei Generationen arbeiten Christina und Joana Frei in ihrem Seiden-Atelier ganz in der Nähe mit Seidengarnen und natürlichen Farben.

Der Geruch des Handwerks

«Als Kind schämte ich mich für den Gestank, der manchmal in unserem Hause hing», sagt Christina Frei. «Heute stört er mich nur noch selten.» Dabei zieht nicht nur der Geruch der Färberei durchs Dorf. Gleich neben dem Seiden-Atelier liegen die Produktionshallen der Gottlieber-Hüppen-Manufaktur. In beiden Betrieben wird eine alte Tradition gepflegt.

Aber im Seiden-Atelier von Joana und Christina Frei gibt es nichts zu naschen, hier geht es alchemistisch zu und her. Gleich beim Eintreten leuchten einem eine ganze Wand voller sinnlich-weicher Garne in über vierzig Natur-Farbtönen entgegen; reine Seide oder Seiden-Mischgarne mit Merino- oder Kaschmirwolle aus Schweizer Produktion.

Die ausgestellten Strick- und Häkelmodelle verleiten zum Streicheln: Pulswärmer, Mützen, Jacken, Schals oder auch Dreiecktücher in harmonischen Farben. Strickpäckchen mit Anleitung und Garn oder edle Knöpfe und passende Accessoires, hier findet sich vieles, was das Strickherz begehrt.

Die Mutter

Ende der Siebzigerjahre muss man für die Aufnahme ins Lehrerseminar achtzehn Jahre alt und Schweizerin sein. Für Joana Frei, Tochter sizilianischer Eltern, eine unüberwindbare Hürde. «Schweizerin werden – auf keinen Fall!», die Eltern weigern sich, der Wunschberuf rückt in weite Ferne.

Also tritt sie nach der Schule erst mal eine Lehre «Dekoration und Verkauf» bei einem renommierten Modegeschäft in Kreuzlingen TG an. Nach dem Lehrabschluss will Joana weg. Sie will einen sinnvolleren Job, fort von Zuhause, raus aus dem System.

Mit gerade mal neunzehn, mitten in einer ersten Lebenskrise, kann sie in ein baufälliges Haus in Gottlieben ziehen. Arbeitslos, nur mit einer Matratze ausgerüstet, bezieht sie die Wohnung im zweiten Stock und bleibt dem Hause 40 Jahre lang treu.

Pflänzenfärberei und Kunstweberei

Hier wohnt auch Walter, der Kunstweber und Färber. Ob er eine Arbeit anzubieten hat? «Du kannst hier arbeiten – aber ich kann Dich nicht bezahlen, ich habe kein Geld.» Also sucht sie sich einen Job im Spital und verkauft zusätzlich, auf Provisionsbasis, seine Produkte auf Messen und Märkten.

Es entsteht eine Freundschaft. Als «alternativ hoch drei» bezeichnet sich Joana rückblickend. «Walter arbeitet in der Färberei, ich stricke und betreue den Verkauf. Pflanzenfärberei, Kunstweberei und Wasser aus der Regenwassertonne …», ein Lächeln gleitet über das Gesicht der 58-jährigen, «und trotzdem bot uns der Eigentümer das Haus zum Kauf an.»

Aus der Freundschaft war mehr geworden. Joana  war schwanger. «Ich bin Feministin, heiraten wollte ich damals bestimmt nicht – aber was tut man nicht für das Geschäft.» Um den Kredit für das Haus zu erhalten, heiraten die beiden und Freunde leihen ihnen Geld.

Doch Kunstweberei ist immer weniger gefragt, also arbeitet Walter bis zum Umfallen in der Färberei. In der Freizeit baut er das Haus um. Noch im selben Jahr kommt Christina zur Welt.

Die Tochter

Im kleinen Dorf am See-Rhein wächst Christina behütet und frei auf. Bereits als Kind ist die heute 36-jährige fasziniert von der elterlichen Arbeit. Sie schaut der Mutter bei Strick- und Häkelarbeiten zu und verbringt viel Zeit mit dem Vater in der Färberei oder am See beim Auswaschen der Seide.

Sie habe schon immer gerne «götschet», mit Wasser gespielt. Aber erst mal wird aus ihr eine leidenschaftliche Wald-Kindergärtnerin.

Rezepte erhalten

Mit 53 Jahren erkrankt Walter an Alzheimer. Der Vater hat einen Wunsch: Bevor die Färberrezepturen «weg sind» und in Vergessenheit geraten, soll Christina diese aufschreiben und sein Handwerk erlernen. Während zwei Monaten unbezahlten Urlaubs taucht sie ein in die Welt der Pflanzenfärberei.

Bald schon arbeitet sie samstags in der Färberei mit. Sie reduziert ihr Arbeitspensum, um die Mutter bei der Pflege des Vaters zu unterstützen und dessen Aufgaben zu übernehmen. Nebenbei arbeitet sie als Naturpädagogin und übernimmt einige Vikariatsstellen.

Zwei Standbeine

Im Sommer 2012 erkrankt Christina an Krebs und muss sich einer Operation unterziehen. Nur wenige Monate später stirbt der Vater, Christina ist neununzwanzig. Nach der Genesung mag sie nicht mehr und gönnt sich eine Auszeit.

Heute arbeitet sie wieder als Wald-Kindergärtnerin mit Teilzeitpensum. Zwei bis drei Tag pro Woche widmet sie der Seidenfärberei. Sie bezeichnet es als meditativen Ausgleich zur oft emotional anspruchsvollen, etwas aufreibenden Arbeit als Naturpädagogin.

Die Pflanzen im Kopf

«Mein Vater hatte die Farben im Kopf; ich die Pflanzen. Ich verbinde mich eher mit diesen, bin ein intuitiver Mensch.» Sie träumt von einem klassischen Färberpflanzen-Garten. Mit der Pacht eines Schrebergartens ist der erste Schritt getan.

Alle Rückstände und Reste der Färberei gehen auf den eigenen Kompost hinter dem Haus. Für ein schönes Gelb ist sie auch schon mal bereit, zwei Tage lang Rinde von einem Apfelbaum-Stamm zu schälen.

«Ich liebe es!» Walter sei ein perfektionistischer Tüftler gewesen, an den Rezepturen gibt es nichts zu ändern. Das eine oder andere Rezept wird leicht angepasst, bis die Tochter dieselben Resultate wie der Vater erreicht. Er hat auch ergänzende Installationen zu den Färbe-Bottichen und kleinere mechanische Helferlein entwickelt.

«Nicht ich, wir beide!»

Christina fragt die Mutter, ob sie nicht zusammen das Geschäft weiterführen wollen: «Komm, wir machen weiter!» Joana ist skeptisch: 30 Jahre lange hat sie alles gemeinsam mit Walter gemacht. Mit der Tochter bietet sich ziemlich viel Konfliktpotential.

«Naja, schauen wir mal, meinte ich damals. Heute finde ich es wahnsinnig schön, dass Christina uns Eltern nachfolgt. Damit hatte ich nie gerechnet. Sie ist ein neuer, frischer Wind.»

Etwas Eigenes

Etwas Stolz schwingt mit. «Ich konnte mich selbst verwirklichen. Ich brachte mir selber das Schreiben von Strickmodellen bei.» Nachdem sie doch Schweizerin geworden war, hätte sie das Lehrerseminar besuchen können. Aber sie realisierte, dass die Schule, mit Plätzchenstricken für Kinder, wohl nichts für sie gewesen wäre. «Ich war bereits beim Design, also viele Schritte weiter.»

«Heute stricke ich, was mir gefällt, sonst kommt es nicht in den Laden. Ich entwickle Strickmuster und verkaufe diese mit der richtigen Menge Garn, sozusagen personalisierte Anleitungen für alle Schwierigkeitsgrade.»

«Aber meine Mutter lebt seit fast zwei Jahren ihren alten Wunsch», wirft Christina ein. Die beiden haben ein eigenes Kurslokal für Strickabende und -Kurse unter Joanas
Leitung eingerichtet.

Mut zur Veränderung

Die beiden Frauen ergänzen sich, sie sind ein Unternehmerteam, das alles selber erledigt: Einkauf, Färben, Strickmuster, Kurse, Werbung, Webshop, Verkauf und Büro. Christina ist für die Färberei und die Öffentlichkeitsarbeit zuständig; die Strickerei, der Laden und die Kurse bleiben Joanas Domänen.

Im Fluss bleiben, bereit sein für Veränderungen, meinen die beiden. Das heisst, sie müssen sich immer wieder austauschen, ohne dies würde vieles scheitern.

«Der grosse Knick in meinem Leben war der Tod meines Mannes –ich wäre gerne mit ihm gestorben. Inzwischen bin ich stolz darauf, dass ich das Schicksal annehmen konnte.» Sie sei aus dem schützenden Schatten ihres Mannes getreten, wollte nicht die trostlose Witwe sein.

Traditionsreiches Neues

Die Veränderung sei weder für  Christina noch sie einfach gewesen. «Heute bin ich ganz ich und habe mit meiner Tochter gemeinsam etwas traditionsreiches Neues geschaffen; das ist sehr befriedigend.» Beiden Frauen ist es wichtig, ausserhalb des Seiden-Ateliers eigenständig handeln zu können.

Joana hat sich ein zweites, erfolgreiches Standbein als Lebensberaterin aufgebaut. Und Christina würde ungern auf die Tage im Waldkindergarten verzichten. Sie legt Wert darauf, dass ohne die Mutter das Seiden-Atelier nicht funktionieren würde. «Die Färberei war das Kind meines Vaters – jetzt ist das Seiden-Atelier unser gemeinsames Kind.»

Die Zukunft

Für das Atelier arbeiten sie an einer guten Vernetzung. «Wir Frauen müssen uns zusammentun, nicht jede muss allein ihre Küchlein backen.» Joana und Christina Frei setzen sich aus Überzeugung für altes, klassisches Frauenhandwerk wie Spinnen, Stricken und Häkeln ein. Jede Käuferin sei wichtig. «Sie unterstützt uns als Frauen, unsere Berufe und auch die Schweizer Produkte.»

Seit einiger Zeit ist da noch ein Dritter im Bunde: Oliver, Christinas Ehemann. Die Zeit war reif für etwas gemeinsames Neues. Oliver hat die beiden Frauen bereits früher gelegentlich mit IT-Arbeiten unterstützt.

Während Christinas Rekonvaleszenz übernahm er, unter ihrer Führung, viele Färbereiarbeiten. Das Neue erwarten sie gelassen, im Wissen darum, dass sie zu Dritt auch andere Herausforderungen bewältigen können.

Die beiden Frauen sind an ihrer Zusammenarbeit gewachsen. Joana ist eine kraftvolle, zufriedene Frau geworden; dankbar für Familie und Freunde. Und sie hat sich ihren Traum vom offenen, gastfreundlichen Haus erfüllt.

Christina sieht sich als jemanden der mit   beiden Beinen im Leben steht, ohne seine Träume zu vergessen. Ihre Mutter ist ihre Geschäftspartnerin geworden. Mit Mut und Liebe zur Zusammenarbeit und Selbstständigkeit vereinen die beiden Frauen Tradition und Moderne.

Weitere Informationen:
www.seiden-atelier.ch
www.swissyarnfestival.ch