Herr Bähler, wie ist die Wolfssituation in der Romandie aktuell?
Claude Bähler: In der Westschweiz ist vor allem der Jurabogen von einem Rudel betroffen, das seit 2018 in der Region Marchairuz unterwegs ist, sowie von einem zweiten, das im vergangenen September in derselben Region offiziell registriert wurde. Seit das erste Rudel nachgewiesen ist, sind die Landwirte sehr besorgt. Die Spezialisten, die die Entwicklung genau verfolgen, versicherten, dass die Wölfe zu keinem Zeitpunkt Rinder angreifen würden. Leider wurden seit Juli dieses Jahres bereits elf Rinder getötet. Auch in anderen Regionen der Kantone Waadt und Wallis sind viele Schafe und Ziegen den Wölfen zum Opfer gefallen. Bei diesen Anschlägen handelt es sich jedoch eher um einzelne Wölfe, die ein Blutbad angerichtet haben.
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Wo in der Westschweiz ist das Problem am grössten?
Das Problem ist für das gesamte Berggebiet der Kantone Waadt und Wallis von Bedeutung. Das Wolfsproblem wird sich wahrscheinlich auf alle Regionen ausbreiten, da der Wolf problemlos sehr viel wandert, von den Alpen bis zum Jura. Letzte Woche wurden zehn Kilometer von Lausanne entfernt zwei Kälber angegriffen. Der Wildhüter teilte mit, dass ein grosses Raubtier für diesen Angriff verantwortlich war, DNA-Tests müssen dies noch bestätigen.
Ein zweites Rudel wurdekürzlich im Vallée de Joux entdeckt. Wie reagieren die Landwirte in der Region auf diese Situation?
Im Waadtländer Jura gibt es 300 Alpweiden, die im Sommer hauptsächlich von Rindern und Pferden genutzt werden. Es wurden sichere Nachtpferche erprobt, aber leider ist der damit verbundene Aufwand für die Älpler unzumutbar, und eine absolute Sicherheitsgarantie gibt es nicht. Ausserdem weigert sich das Vieh ab der zweiten Nacht, dorthin zu gehen. Diese Nachtpferche haben noch zwei weitere grosse Nachteile: Sie stören die Bewegung von Hirschen, Rehen und anderem pflanzenfressenden Wild und erschweren den Zugang für Wanderer und Pilzsuchende.
Wissen Sie von Fällen, in denen Nutztiere von diesem neuen, zweiten Rudel getötet wurden?
Ja, ich kenne mehrere Landwirte, deren Herden angegriffen wurden. Ein junger Landwirt, der seine Milchviehhaltung diversifizierte, indem er Räume für die Herstellung, Verarbeitung und den Verkauf von Ziegenkäse einrichtete, musste mitansehen, wie vier seiner Ziegen vom Wolf gefressen wurden. Zehn Tage später wurde in der Nähe eines Hauses eines seiner Kälber getötet. Diese Situation wirkt sich sehr stark auf die Moral der Landwirte aus, die dem Ganzen machtlos gegenüberstehen. Ausserdem wird die öffentliche Meinung immer widersprüchlicher. Ein Teil der Bevölkerung schlägt vor, die Tiere im Stall zu halten, während der Gesetzgeber und die Mehrheit der Bevölkerung fordern, dass die Tiere so weit wie möglich im Freien gehalten werden sollen.
Haben die Politiker in Bern den Ernst der Lage aus Ihrer Sicht erkannt?
Mehr als die Hälfte der Parlamentarier(innen) hat nicht begriffen, welche Verzweiflung dies bei den Landwirten auslöst und welche Folgen dies haben wird. Einige haben bereits aufgehört, auf die Alpen zu gehen. Diese Flächen werden aufgegeben, was zu einer erhöhten Lawinengefahr und langfristig zu einer Vergandung führen wird, die einen Verlust der Artenvielfalt und eine Verringerung der Nahrungsmittel für die Konsumentinnen zur Folge hat. Im Jura, wo die Bergweiden an landwirtschaftliche Flächen angrenzen, wird der Wolf in die Bauernhöfe eindringen und den ganzen Winter über Angriffe verüben.
Was erwarten Sie nun von der Politik?
Dass jede und jeder Verantwortung übernimmt. Sie sollen nicht so tun, als wäre es ein Novum, dass Wölfe Rinder angreifen. Dass die Landwirte als Opfer dieser Situation gesehen werden und nicht als die Verantwortlichen. Dass die Wolfspopulation drastisch und schnell reguliert wird. Ende 2019 gab es in der Schweiz 80 Wölfe, Ende 2020 waren 105 gezählt worden. Es ist zwingend erforderlich, dass die Bundesgesetzgebung sehr schnell entwickelt wird, um die Wölfe zu regulieren. Wölfe mit auffälligem Verhalten müssen eliminiert werden.
Was ist Ihre Meinung?
Die Schweiz ist ein kleines und dicht besiedeltes Land, das nicht genügend unberührtes Gebiet hat, um so viele Wölfe zu beherbergen. Man hatte nicht damit gerechnet, dass der Wolf Vieh angreifen würde, dass er in die Nähe von Siedlungen kommen würde oder dass sich seine Population so schnell entwickeln würde. Dies erfordert eine rasche Reaktion des Gesetzgebers, der die Situation korrigieren muss. Es ist eines Landes wie dem unseren nicht würdig, den Landwirten, die uns ernähren, solches Leid zuzufügen.
Das Interview wurde schriftlich geführt und aus dem Französischen übersetzt.