Als Mirlinda Fazliu am 23. April 2016 den Warenlift zur Hundwiler Höhe besteigt, denkt sie, dass nun alles vorbei ist. Dreizehn Jahre hat sie in der Bergbeiz mit ihrer Chefin gearbeitet. Nun ist Marlies Schoch mit 75 Jahren gestorben. Überraschend und auch wieder nicht: Am Tag davor hatte Mirlinda Fazliu Dienst in der Bergbeiz.

Sie spürte, dass etwas anders war: «Marlies rief mich ständig zu sich in die Stube, wo sie meistens beim Kachelofen sass, ich solle mich mit einem Tee zu ihr setzen, mit ihr diskutieren, was wir beide doch so gerne machten. Sie bedankte sich bei mir für alles, was ich getan hätte.» Am nächsten Morgen erfährt sie am Telefon vom Tod der Wirtin, eilt von Herisau aus herbei. 

Als sie auf 1309 Meter aussteigt, hat sie Angst. Sie sieht den Alpstein, den Bodensee, das Solarhaus und die Beiz mit den roten Fensterläden, denkt, dass sie nicht nur ihre zweite Mutter, sondern auch ihre zweite Heimat verloren hat. «Was ich brauche, finde ich hier». Die Natur, Arbeit und Familie. 

Ein neuer Verlust

Ein Verlust, denkt sie, nicht schon wieder. Mirlinda Fazliu kennt das schon. Als Kind musste sie aus dem Kosovo fliehen, fand später auf der «Hundi», wie die Einheimischen den Ort nennen, ein neues Leben. 

Wenn Gäste fragten, ob Mirlinda denn Marlies' Tochter sei, pflegte die Wirtin augenzwinkernd zu sagen: «Ja, ja, das ist mein Kind. Sie war lange im Ausland und ist nun heimgekehrt.» So ähnlich waren sich die Frauen in all den Jahren geworden, dass es sogar anderen auffiel.

Am Tag der Todesnachricht auf der Hundwiler Höhe angekommen, betritt Mirlinda die urige Beiz, sieht den leeren Platz beim Ofen, wird noch trauriger. Dann wird sie unerwartet mit dem letzten Willen der Verstorbenen konfrontiert: Ob sie die Hundwiler Höhe übernehmen würde? Mirlinda Fazliu zögert keine Sekunde, sagt ja. Und tritt damit ein schweres Erbe an.

Denn Marlies Schoch war nicht nur für sie Familie, sondern auch für alle, die den steilen Fussweg auf sich nahmen, um bei ihr einzukehren. Daher war es ihr auch wichtig, dass die Hundwiler Höhe 365 Tage im Jahr geöffnet sein müsse. 

Bei einem Auftritt in der Giacobbo/Müller-Show erklärte sie es einmal so: «Ich wohne ja auch hier, und dann kann man nicht dem einen sagen, komm herein und dem anderen nicht.» Träfe Worte, wie man im Appenzell sagt. 

"Landesmutter"

Für Marlies Schoch gab es keine Unterschiede zwischen den Gästen, für sie waren alle Menschen, allewurden gleich behandelt. Kurt Aeschbacher zählte 2011 in seiner Sendung auf, wer kürzer oder länger vorbeischaute: Wanderer, Bundesräte, Ausbrecher, Asylanten. Als «Beste Wirtin der Schweiz» oder «Landesmutter» wurdedie Frau mit dem grossen Herzen von nationalen Zeitungen geadelt, der Film «Service inbegriffen» porträtiert das Leben der Wirtin, einstigen Lehrerin und Politikerin, die den Spalt zwischen Inner- und Ausserrhoden nie verstand. 

Mirlinda Fazliu kennt niemanden, der so ist wie Marlies Schoch: «Sie hatte diese Gabe, mit Menschen umgehen zu können. Und sie konnte es immer. Ein oder zwei Tage, das kann jeder. Aber Marlies konnte es immer.» Deshalb ist sie hier geblieben. Und das ist gut so. Denn keine andere Geschichte würde besser hierher passen als ihre:

Sie beginnt am 2. März 2003, Mirlinda Fazlius erstem Arbeitstag. Die Jugendliche hat ein Pflege-Praktikum absolviert, doch die Lehrstelle wurdeletztlich doch nicht vergeben. Andere Optionen hat die Realschülerin nicht, die erst zwei Jahre in der Schweiz ist und hochdeutsch spricht. Die «Hundi» kennt sie als Ferienjob. Sie ist fleissig, will in ihrer Freizeit «nöd umähockä». Ein Jahr lang fährt sie mit dem Postauto her, läuft zur Höhe hinauf, bis Marlies Schoch sie fragt, ob sie denn nicht übernachten wolle?

Wie eine zweite Familie

Die Wirtin ruft den muslimischen Vater an, fragt: «Dörf sie nöd grad bliibä. I luäg ihrä scho guät!» Die Tochter darf, bleibt zwei Jahre, besucht eine Deutschschule. «Es war mein bestes Jahr, ich hatte pro Woche einen halben Tag frei, ganz für mich»; sagt die heute 31-Jährige. Sie lernt «Dugi» kennen, heiratet ihn, zieht nach Herisau, bekommt zwei Kinder: Leard (12) und Ariola (7). Der Bub chillt gerne mit seinen Kollegen, erzählt die Mutter, das kreative Mädchen liebt es, Neues aus ausgemusterten Kleidern zu nähen.

Viel Zeit füreinander bleibt der Familie nicht, die Mutter übernachtet oft auf der Hundwiler Höhe. Doch wenn sie daheim ist, wird etwas gemeinsam unternommen. Ihren Kindern will sie die Liebe geben, die sie auch von ihren Eltern bekommen hat. Und auch das Familiäre, Hilfsbereite, das sie in ihrer Kindheit im Kosovo so sehr prägte.

Ein neuer Anfang

Mirlinda Fazliu wächst in Shipashnica im Osten des Kosovos auf. Sie lebt mit ihrer Mutter und den Geschwistern in einem Haus mit zwölf Zimmern, der Vater arbeitet in Schwellbrunn, im Dorf leben viele Cousinen und Cousins. Die Grosseltern hätten immer Zeit für sie gehabt. «Kinder spüren, wenn sie wichtig sind», lernte Mirlinda Fazliu von ihnen.

Dann bricht der Krieg über die Idylle. Als serbische Soldaten ihr Haus durchsuchen, ist die Zwölfjährige alleine zuhause. Ein Wunder, dass nicht mehr passierte. Im Mai 1999 flieht die Familie. Ausgerechnet die serbischen Eltern ihrer Freundin Elfete helfen, alle 50 Fazliu-Kinder in einem anderen Dorf zu verstecken, bis sie via Mazedonien in die Schweiz fliehen können. «Wir standen unter ihrem Schutz, wurden deshalb geschont», begreift Mirlinda Fazliu später. Etwas, das sie nie vergessen wird: Elfete besucht sie auch heute noch, schreibt ihr regelmässig zum Fastenbrechfest nach dem Ramadan. 

Den Krieg und die Flucht hat sie verarbeitet. Auch den Verlust des ­geliebten Grossvaters, den sie nie mehr wiedergesehen hat. Dugis schlimmen Arbeitsunfall an der Stanzmaschine vor Jahren. Den Tod von Marlies Schoch.

Die neue Wirtin der Hundwiler Höhe ist stark. Und sie weiss, was sie so stark gemacht hat. Es sind die Werte, die sie in Shipashnica und Hundwil gleichermassen mitbekommen hat. Und die sie nun ganz selbstverständlich weiterleben wird. 

Etwa, wenn wieder einmal Jugendliche bei ihr anklopfen und ­sagen, sie hätten nur wenig Geld, ob es denn trotzdem etwas zu essen gebe? Aber sicher, keine Frage, jedenfalls nicht hier, auf der «Hundi». 

www.hundwilerhoehe.ch