Sie tritt aus der Höhle und sieht aus den Augenwinkeln einen Säbelzahntiger. Das Adrenalin schiesst ins Blut. Kämpfen, weglaufen oder starr stehenbleiben? 

Vor vielen Tausend Jahren retteten die ausgeschütteten Stresshormone unseren Vorfahren das Leben. Das ist heute noch genauso: Dem Auto, das auf mich zusteuert, kann ich nur mit einem Sprung zur Seite ausweichen. Durch die Stressreaktion meines Körpers handle ich kraftvoll und schnell. Wir sind so konstruiert, solch einzelne «Säbelzahntiger-Situationen» zu bewältigen.

Was wir aber nicht können: Über Jahre vor einem Säbelzahntiger weglaufen, uns gleichzeitig um die Sippe kümmern, Mammuts jagen und Beeren sammeln. Doch genau das gehört heute für viele zum Alltag.

Volkskrankheit Stress

«Stress ist eine Volkskrankheit geworden, ausgelöst durch den gesellschaftlichen Druck», erklärt Rolf Hess, Experte für Stressregulation und Gründer des SABL, eines Ausbildungsinstitutes für Burnout-Prävention und Lebenscoaching. «Schneller, höher, perfekter!», heisst die Devise.

Dieser Druck verhindert, dass wir mit Stress richtig umgehen und ihn nicht mehr abbauen können. Ruhephasen, ein achtsames Leben und Pausen haben keinen Stellenwert. Die Angst, nicht zu genügen, nicht perfekt genug und nicht besser als die anderen zu sein, wird unser steter Begleiter – wir stehen sozusagen immer unter Strom. Der Säbelzahntiger blinzelt uns ständig zu.

Gift für den Körper

Was passiert bei Dauerstress im Körper? Cortisol vergiftet langsam unseren Körper. Das «Stresshormon» stellt uns energiereiche Verbindungen zur Verfügung, hilft beim Abbau von Adrenalin und hat eine dämpfende Wirkung auf das Immunsystem.

Ist es im Dauereinsatz, trägt es bei zu hohem Blutdruck, Müdigkeit, Schlaflosigkeit, verspanntem Nacken, Kopfschmerzen, Schweissausbrüchen, Magenverstimmungen, gelegentlichem Fieber, bis hin zu leicht depressiven Stimmungen und suchtähnlichem Verhalten.

Viele Beschwerden sind Alarmreaktionen unseres Körpers. Frauen und Männer erleben Stress grundsätzlich gleich, aber er drückt sich anders aus: Männer werden in der Regel eher aggressiv, Frauen reagieren eher mit Depressionen.

Das Risiko der Bäuerinnen

Dauerstress hat viele Gesichter, privat wie beruflich. Handwerker haben durch die körperliche Arbeit eher eine Chance auf Ausgleich. Bei klassischen Frauenberufen wie Lehrerin oder Pflegefachfrau ist das Burnout-Risiko massiv erhöht. Wer sich tagtäglich um andere kümmert, vergisst oft die eigenen Grenzen. Auch Bäuerinnen haben ein höheres Risiko, da ihr Leben meist von äusseren Einflüssen bestimmt wird, wie Wetter und Tiere. Dazu kommen die Familie, der Betrieb, das Büro, die ständige Verfügbarkeit.

Was hilft? «Weg vom Perfektionismus, er ist einer der grössten Stressfaktoren!», rät Rolf Hess. «Gönnen Sie es sich selber, nicht perfekt zu sein.» Das sogenannte Pareto-Prinzip hilft dabei: Wir erledigen mit 20 Prozent unserer Energie 80 Prozent unserer Arbeit. Für die restlichen 20 Prozent Arbeit benötigen wir dann meist 80 Prozent unserer Energie, und das laugt aus. Weshalb nicht einmal etwas gut sein lassen? Helfen kann auch ein flexibler Wochenplan, mehr dazu weiter unten.

Multitasking und Achtsamkeit

Achtsamkeit hat sich ebenfalls bewährt. «Achtsamkeit heisst bewusstes Leben. Wir sollten weder ausschliesslich in der Zukunft, noch in der Vergangenheit leben. Da laufen wir Gefahr, uns entweder zu ängstigen oder alles zu verklären. Leben Sie jetzt – konzentrieren Sie sich auf den Moment, auf die Arbeit, auf das Hobby, auf den Menschen, der Ihnen gegenüber steht, auf nichts anderes.»

So erhalte jede Tätigkeit ihren Wert, und der Mensch könne eine gewisse Ruhe oder gar Genuss darin finden. Dazu gehört auch, die Signale des Körpers ernst zu nehmen und sie nicht als Schwäche abzutun.
Ein weiterer Aspekt ist, vom ewigen Multitasking wegzukommen. Es führt nur zu Konzentrations- und Leistungsverlust. Auch wenn die Versuchung gross ist, gerade bei Zeitnot mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen, rät Rolf Hess davon ab.

Hektik und Sturheit statt Übersicht

Ein weiteres Risiko bei Dauerstress: Wir stellen uns nicht mehr flexibel auf neue Bedingungen ein. «In einer Stresssituation ist es wichtig, sehr schnell zu reagieren. Wir denken dann nicht mehr logisch, sondern rufen Gelerntes sekundenschnell ab.» Genau so verhalten wir uns in Zeiten von Hektik im Chaos. Jetzt wäre ein klarer Kopf gefragt. Doch statt zielgerichtet zu denken, werden wir zum Gewohnheitstier und verharren stur in der Routine – bis zur Sinnlosigkeit.

Wer immer wieder in dasselbe Muster zurückfällt, ist im Stress. Und diesem Hamsterrad gilt es zu entfliehen. Das «Burnout-Rad» von Rolf Hess zeigt, welches die ersten Alarmsignale sind. Wer sich noch im grünen Bereich findet, kann mit einem guten Ausgleich rasch wieder zurück zur Gesundheit finden. Bereits kleine Veränderungen im Alltag bringen Entspannung.

Praktische Stresstipps

  • In akuten Stresssituationen hilft bereits, bewusster zu atmen: tief und langsam, zwei bis drei Minuten lang. Mit bewusster Atmung konzentriert man sich auf sich selber, und die Übung lässt keine anderen Gedanken zu. Stellen Sie sich dazu in eine ruhige Ecke oder ans Fenster. Fragen Sie sich, ob sich Ihr Ärger lohnt. Kümmert das in einem halben, einem ganzen Jahr noch jemanden?
  • Entlasten Sie Ihr Hirn spielerisch, mit doppelten Überkreuzung: Hinstellen. Beine überkreuzen. Arme ausstrecken, an den Handgelenken überkreuzen, Handfläche an Handfläche halten. Die Finger greifen ineinander. Nun beide Hände und Unterarme zum Körper drehen. Versuchen Sie nun, einen bestimmten Finger bewusst zu bewegen, zum Beispiel den Ringfinger der linken Hand. Und dann einen anderen Finger.
  • Lächeln Sie den Ärger weg – immer wieder. Wenn es nicht anders geht, reicht dazu eine WC-Kabine. Lächeln oder oder grinsen Sie mindestens eine Minute am Stück. Sie überlisten damit Ihr Hirn, und Ihr Körper entspannt sich. Das verlangsamt den Herzschlag und hellt die Stimmung sofort auf. Auch ein falsches Lächeln funktioniert und ist gut für Ihr Immunsystem.
  • Präventiv hilft, tagsüber fünf Minuten lang zu lächeln; nicht am Stück, aber immer wieder: beim Autofahren, beim Einfüllen der Waschmaschine. Im Büro kann man zum Beispiel unbemerkt lächeln, wenn man zu einer tiefgelegenen Schublade greift.
  • Streicheln Sie ein Tier! Bereits fünf Minuten reichen aus, um den Blutdruck zu senken und den Puls zu beruhigen. Nebenbei wird das Immunsystem gestärkt. Die positiven Effekte werden durch die Ausschüttung von Glückshormonen ausgelöst.
  • Singen Sie – nicht nur unter der Dusche. Der Lieblingsschlager im Radio, Lumpenlieder mit Kindern. alles funktioniert. Sie jodeln? Perfekt! Der Körper entspannt sich beim Singen sofort und nachhaltig. Und dabei ist es völlig egal, ob es falsch klingt.

Planen Sie, aber mit Flexibilität. Erstellen Sie einen Stundenplan für alle Tätigkeiten der nächsten zwei Wochen, inklusive Freizeitaktivitäten. Lassen Sie genug unverplante Zeit pro Tag, sie wird sich automatisch füllen. Mit solch einer flexiblen Planung können Sie sich Freiheiten nehmen. Zum Beispiel, das Bügeln vom Dienstag-Nachmittag wegen des guten Heu-Wetters zu verschieben. Planen Sie aber auf jeden Fall den Ersatztermin ein. Vergessen Sie weder Ihre Pausen, noch Ihre Hobbys, noch die Zeit mit Familie und Freunden.

Pflegen Sie Dankbarkeit und Freundlichkeit. Zählen Sie mindestes zwei Mal am Tag drei positive Erlebnisse auf, auch wenn es nur Kleinigkeiten sind. Positive Erfahrungen helfen beim Aufbau von Selbstmitgefühl, Widerstandskraft und Selbstwertgefühl.

Dann gibt es natürlich noch die Dauerbrenner, die nicht zu unterschätzen sind: regelmässiger Schlaf, ausreichend Bewegung, soziale Kontakte, ein Hobby, weniger Fernsehen und Handy.
Eine Umstellung braucht Zeit, in der Regel mindestens drei bis vier Wochen. Und nicht immer kommt man allein weiter: Scheuen Sie sich im Zweifelsfall nicht, rechtzeitig einen Coach, Psychologen oder Psychiater zu kontaktieren.