Soll ich den Job wechseln? Vor mir liegt so viel Arbeit, ich habe das Gefühl, das schaffe ich gar nicht. Er nervt mich so! Wie komme ich aus der Situation raus?

Unser Leben ist voll von solch kleineren und grösseren Dramen. Sie verderben uns die Laune und rauben uns den Schlaf. Sie lassen uns nörglerisch, dünnhäutig, sarkastisch oder übermässig streng werden, uns selbst und anderen gegenüber. 

Das "wie" ist entscheidend

Wie kann man belastende Situationen verändern? Oder zumindest einen anderen Zugang dazu finden, es leichter um die Seele werden lassen? «Focusing» kann ein Anfang sein.

Der Name stammt vom amerikanischen Psychotherapeuten und Philosophen Eugene T. Gendlin, der lange an der Universität von Chicago gearbeitet hat. Er und einige Kollegen gingen der Frage nach, warum Psychotherapien nicht häufiger gelingen.

Das verblüffende Ergebnis der Studie: Unabhängig von Methode und Therapeuten lag es daran, wie der Klient in der ersten Sitzung von seinen Problemen und Wahrnehmungen erzählte.

Diesen eigentlich ganz natürlichen Zugang hat Gendlin in unsere Zeit übertragen und so in Worte gefasst, dass er bewusst angesteuert werden kann. 

Focusing können alle

«Focusing zu kennen ist nicht alles, aber es verändert das Ganze», sagt Eveline Moor. Die Bergbauerntochter aus Gadmen ist Focusing-Ausbilderin in Zürich und im Tessin und Autorin eines Buches zum Thema.

«Focusing ist etwas Kleines, das wir alle können. Es ist keine lösungsorientierte Methode, das nimmt Druck weg. Es geht vielmehr darum herauszufinden, was unser nächster Schritt ist, was es jetzt braucht.»

Sich eine Zeit lang mit der Methode zu ­befassen, vereinfache das Leben, ermögliche einen anderen Umgang mit Entscheidungen und Problemen. 

In kleinen Schritten mit Focusing beginnen

In der Theorie hat ein Focusing-Prozess sechs Schritte. «In der Praxis fliessen diese Schritte aber ineinander über» weiss Verena Reinhard. Sie bietet in Bern Focusing-Sitzungen an und betreut ein offenes Focusing-Treffen.

Ihr sagt die Methode zu, weil es «etwas total Natürliches» sei. Zudem könne man damit auch ganz zart und in kleinen Schritten beginnen. «Wichtig ist, freundlich und mitfühlend mit sich selbst zu sein. Und zu akzeptieren dass das, was kommt, richtig ist.» 

Focusing: Wie absichtloses Lauschen

Der Einstieg ist einfach, verlangt allerdings, dass man sich ein bisschen Freiraum schafft: Zum einen dafür sorgen, dass man zehn bis 30 Minuten ungestört ist.

Zum anderen, dass man – im übertragenen Sinn – die Probleme im Kopf etwas zur Seite schiebt, sich vom ewigen Grübeln eine Pause gönnt. Das schafft Platz, um den Körper wahrzunehmen. Wie bei einem absichtslosen Lauschen. Zum Beispiel wahrnehmen: Wie sitze ich auf dem Stuhl? Wie spüre ich meine Füsse? 

Nun kann man die Aufmerksamkeit auf das lenken, was einen beschäftigt – wieder über die Körperwahrnehmung. Vielleicht ist ein Druck auf der Brust spürbar? Eine Enge in der Kehle? Ein Knoten im Bauch?

«Unser Alltag ist voller Redewendungen über Körperwahrnehmungen», weiss Eveline Moor «Gerade Frauen fällt es meist leicht, sie bei sich wahrzunehmen.»

Focusing: Fragen und warten

Und wenn nichts auftaucht? Oder gleich mehrere Probleme? Geduldig sein. Innerlich etwas Abstand nehmen. Atmen. Sich nicht vom Kopf diktieren lassen, dass man sich jetzt mit einem bestimmten Thema beschäftigen muss. 

«Geben Sie sich einen Moment Zeit und lassen Sie Ihr Thema auftauchen», rät Verena Reinhard. «Es darf schwammig und ungenau sein.

Auf Warum-Fragen verzichten

Verzichten Sie auf Warum-Fragen und Analysen. Versuchen Sie einfach, das unbestimmte Gefühl zu beschreiben.» Zum Beispiel: «Da ist etwas Warmes.» «Etwas Kaltes.» «Ein schwarzes Loch.» «Es ist wie …» Man muss an dem, was man im Körper spürt, nichts verändern. Es nur einen Moment aushalten. 

Nun geht es noch etwas mehr in die Tiefe, ebenfalls mithilfe der Körperwahrnehmung. Dabei können Fragen helfen wie: Was steckt darunter? Was ist der Knackpunkt dabei? Was ist das Schlimmste daran? Was braucht es, damit ich mich besser fühle? «Fragen Sie, warten Sie und lassen Sie Ihren Körper antworten», schreibt Gendlin dazu. 

Vertrauen in die Körperintelligenz

Doch wie merkt man, dass man auf der richtigen Spur ist, dass der Körper die Antwort kennt? Mit einem Gefühl der Erleichterung. Einem Gefühl, das die meisten kennen, zum Beispiel nach dem Einkaufen oder dem Beginn einer Reise.

Man weiss genau, man hat etwas vergessen. Aber was? Plötzlich fällt es einem ein: «Die Butter!» «Meine Zahnbürste!» In diesem Moment spürt man eine Erleichterung, obwohl Butter oder Zahnbürste noch immer fehlen. Doch man weiss nun, was man braucht. 

Selbst etwas verändern

Dieses körperlich spürbare Gefühl des Wohlbefindens reicht, um in sich selber eine Veränderung in Gang zu setzen, so die Erfahrung von Focusing-Anwendern und Studien.

Verena Reinhard: «Manchmal taucht ein Wort auf, oder ein Bild. Ein Satz zum Mitnehmen. Lassen Sie es wirken. Würdigen und schützen Sie es: So wie es ist, ist es gut.»

Focusing geht auch zu zweit

Mit etwas Übung kann Focusing überall praktiziert werden, selbst beim Warten auf den Bus. Ist man allein, können Notizen hilfreich sein.

Die Methode lässt sich aber auch mit einer zweiten Person nutzen, zum Beispiel einer Freundin. Dabei ist es nichtnötig, dem Gegenüber das ganze Problem zu schildern. Es reicht zu umschreiben, was in einem passiert.

Wer eine Entscheidung treffen will, kann mithilfe von Focusing die Gefühle vergleichen: Was löst es in mir aus, wenn ich A mache, was, wenn ich B mache? 

Focusing in der Praxis lernen

Focusing nur in der Theorie oder über ein Buch zu erlernen, hat sich gemäss den beiden Fachfrauen nicht bewährt. Einfacher geht es über ein bis zwei Focusing-Sitzungen oder einen Kurs.

«Focusing ist eine innereHaltung», sagt Eveline Moor. «Es kann einem dabei helfen, Verantwortung für sich zu übernehmen, statt zu erwarten, dass die Lösung von aussen kommt.» 

Weitere Informationen:

www.focusing-schweiz.ch