«Am stärksten gefährdet sind Unternehmen, in denen die Produkte kühl gelagert werden müssen und die Kühlkette strikt eingehalten werden muss», erklärt Lorenz Hirt, Geschäftsführer der Föderation der Schweizerischen Nahrungsmittel-Industrien (Fial), gegenüber AWP.

Darüber hinaus gibt es Produktionsstätten, in denen selbst ein nur wenige Sekunden dauernder Stromausfall dazu führt, dass der Betrieb der Anlage komplett eingestellt werden muss, um sie zu reinigen und die notwendigen Kontrollen durchzuführen. «Solche Prozesse können einen halben Tag oder sogar noch länger dauern, wenn es sich um eine komplette Fabrik handelt», erklärt der Experte. Selbst im Falle eines kurzen Energieausfalls wären die Auswirkungen laut Hirt für die betroffenen Unternehmen erheblich.

Schnelle Umstellung auf Alternativen ist schwierig

AboEnergiekriseDie Milchverarbeitung braucht auch Gas – und das wird knappMontag, 25. Juli 2022 Eine solche Firma, die stark auf intakte Kühlketten und Erhitzungsprozesse angewiesen ist, ist der Innerschweizer Milchverarbeiter Emmi. Emmi benötigt Gas für die Herstellung fast aller Produkte, wie eine Sprecherin erklärt. Ein Ausfall des Gases hätte aber aber auch Auswirkungen, die über den eigenen Betrieb hinausgehen – etwa auf die Bauern. Denn Emmi könnte dadurch weniger Milch annehmen und verarbeiten.

Der Gesamtenergieverbrauch von Emmi Schweiz liegt laut der Sprecherin bei rund 840'700 Megawattstunden. Davon wird etwa die Hälfte mit Gas bestritten. Falls dieses nicht ausreichen würde, müsste der Brennstoff in den Heizkesseln nach Möglichkeit durch Heizöl oder Flüssiggas ersetzt werden, die Anlage verlangsamt oder sogar ganz stillgelegt werden.

Doch solche kurzfristigen Umstellungen sind laut der Sprecherin wegen der fehlenden technischen Infrastruktur «zumeist nicht realisierbar». Denn die weniger nachhaltigen Öl- und Kohledampfkessel wurden in den letzten Jahren sukzessive durch Gas ersetzt.

Lebensmittelsicherheit durch Erhitzen sichergestellt

Auch beim Hersteller von Babynahrung Hochdorf ist man stark auf die Verfügbarkeit von Gas angewiesen: «Unsere Verfahren zur Herstellung von Pulvernahrung aus Milch oder Milchalternativen beinhalten Temperaturen von über 200 Grad, die aus Gründen der Produktqualität und -sicherheit nicht reduziert werden können», sagt eine Sprecherin des Unternehmens.

Im Falle einer Energierationierung habe die Firma zwar Möglichkeiten, übergangsweise das Gas durch Alternativen zu erstetzen. «Bei Strom wird es jedoch komplizierter, da wir ihn entlang unserer gesamten Produktionskette benötigen», erklärte die Sprecherin. Je nach Szenario hätte das Unternehmen dann Kapazitätsengpässe oder Produktionsunterbrechungen und könnte so weniger Babymilch und Milchpulver produzieren.

Nestlé sieht sich gewappnet

In ganz anderen Dimensionen bewegt sich der Branchenprimus Nestlé, der im Jahr 2020 gemäss einem Sprecher weltweit rund 11,5 Millionen Megawattstunden Gas verbraucht hat. Dieses werde primär zur Erzeugung von Dampf und Wärme und zu einem gewissen Anteil auch für die Stromerzeugung genutzt. Doch im Falle eines Ausfalls sei man gewappnet, erklärt der Sprecher. «Es bestehen Notfallpläne, um Lieferengpässe zu überwinden. Das gilt auch für Deutschland, wo wir 11 Werke haben.»

Lebensmittelsektor soll Vorrang haben

Nebst der Entwicklung von Notfallplänen und Szenarien setzt Emmi auch auf die politische Arbeit. Man habe eine eigene Arbeitsgruppe eingerichtet, zu deren Zielen es gehöre zu klären, ob wichtige Akteure der Lebensmittelbranche im Falle eines Engpasses in Europa einen vorrangigen Zugang zu Gas erhalten könnten, sagte der Sprecher.

Der Verband Fial plädiert dafür, dass der Lebensmittelsektor bei der Energieversorgung Vorrang haben sollte. Wenn es darum geht zu entscheiden, ob man Unterschiede machen sollte, jenachdem welche Produkte mehr oder weniger essenziell sind, hält sich Verbandschef Hirt jedoch zurück. «Wichtig ist, dass die Regale der Detailhändler gut gefüllt sind», so Hirt. So verhindere man den negativen psychologischen Effekt auf das Einkaufsverhalten – also das Hamstern von Waren, das zu Knappheit führen kann, wo es gar nicht nötig wäre. Das habe die Bevölkerung etwa am Beispiel von WC-Papier während der Coronapandemie erlebt.