«Die aktuelle Krise wird immer noch stark unterschätzt»: Zu diesem Schluss kommt die Naturschutzorganisation Pro Natura aufgrund einer neuen Studie, welche sie selbst in Auftrag gegeben hat. Diese zeige, dass «das Bild, das sich die Schweizerinnen und Schweizer vom Zustand der Biodiversität machen, zu 50 Prozent positiv ist».
Positive Einschätzung
Die für die Schweiz repräsentative Studie wurde von GFS-Zürich durchgeführt. Dafür wurden im Juli und August telefonisch 1209 Personen ab 18 Jahren befragt. 49 Prozent waren Männer, 51 Prozent Frauen:
- 46 Prozent der Befragten waren der Meinung, die Biodiversität in der Schweiz sei in einem «eher guten Zustand» (2022: 54 %).
- 4 Prozent hielten sie sogar für «sehr gut», wie schon 2022.
- 40 Prozent schätzen den Zustand als «eher schlecht» (2022: 35 %)
- und 4 Prozent als «sehr schlecht» (wie 2022) ein.
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Doch die Realität sehe ganz anders aus, schlägt Pro Natura in der Mitteilung vom Donnerstag Alarm: «In der Schweiz leidet die Biodiversität unter einer beispiellosen Krise, die verheerende Folgen erwarten lässt.»
So seien
- 60 % der Insekten gefährdet oder potenziell gefährdet;
- 95 % der Trockenwiesen und -weiden sind seit 1900 verschwunden;
- 40 % der Brutvögel in Gefahr oder potenziell in Gefahr.
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Sensibilisierung nötig
«Wir haben diese Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der Bevölkerung und der wissenschaftlichen Realität vor Ort schon 2022 festgestellt», wird Leo Richard, Projektleiter Kampagnen bei Pro Natura, zitiert. Man habe deshalb die Öffentlichkeitsarbeit intensiviert und werde dies weiter tun.
Das fehlende Bewusstsein der Bevölkerung verhindert laut Pro Natura, dass Massnahmen ergriffen werden, um das Verschwinden von Arten und natürlichen Lebensräumen einzudämmen. Erschwerend hinzu komme die aktuelle politische Lage. «Die Häufung von Krisen – Klima, Krieg, Energieversorgung usw. – führt zu einer Art Konkurrenzsituation. Sie bewirkt, dass die Natur und ihr Schutz systematisch in den Hintergrund gedrängt werden, denn die Situation wird nicht als dringlich wahrgenommen», analysiert Ursula Schneider Schüttel, Präsidentin von Pro Natura und SP-Nationalrätin.
Das sagt der Schweizer Bauernverband: «Bestehende Flächen aufwerten, statt immer mehr auszuscheiden»
Wie ordnet der Schweizer Bauernverband (SBV) die Studienergebnisse ein? Auf Anfrage der BauernZeitung heisst es: «Die Biodiversität scheint bei der Bevölkerung als Thema durchaus präsent zu sein. Sie sehen aber wahrscheinlich, dass sich durchaus etwas tut und sich die Situation verglichen früher bereits stark verbessert hat.»
Unterdessen dienten ein Fünftel aller Landwirtschaftsflächen zur Förderung der Biodiversität mit unterschiedlichen Elementen. «Wir denken, dass spätestens jetzt ein Umdenken einsetzen muss. Wir müssen künftig nicht darüber reden, immer weitere Flächen auszuscheiden, sondern die bestehenden aufzuwerten», hält die Medienstelle des SBV weiter fest.
Beim SBV findet man nicht, dass das Thema wenig präsent sei in den Medien: «In unserer Wahrnehmung ist das Thema Biodiversität sehr präsent». Das zeige auch die Umfrage von Pro Natura selbst, denn fast alle Befragten wüssten genau, um was es dabei geht. «Das ist bei einem Fremdwort alles andere als selbstverständlich.»
Das sagt Bio Suisse: «Viele halten die Schweiz für eine heile Welt»
Wie ordnet Bio Suisse die Studienergebnisse ein? «Die Menschen kennen leider die Natur immer weniger, und der Verlust ist schleichend. Viele halten die Schweiz für eine heile Welt», heisst es auf Anfrage der BauernZeitung von der Medienstelle. Darum falle vielen gar nicht auf, wenn viele Blumen, Tiere oder Pilze verschwinden und die Böden und das Wasser immer weniger Leben enthalten.
Wie schätzt Bio Suisse die Situation der Schweizer Biodiversität ein? «Wir stützen uns auf die Fakten. Die Situation ist so dramatisch wie beim Klimawandel und eng damit verbunden. Wir müssen den Trend umkehren.» Die Landwirtschaft präge die Biodiversität und trage Verantwortung, aber auch alle Menschen mit ihrem Verhalten. «Unser Parlament sollte das Problem endlich ernst nehmen und einen guten Gegenvorschlag zur Biodiversitätsinitiative vorlegen», heisst es von Bio Suisse weiter.
Zum Thema Stellenwert der Biodiversität bei den Konsument(innen) heisst es von der Knospe-Dachorganisation: «Das Thema ist wichtig. Die Leute tragen ihm Rechnung, indem sie Label bevorzugen, die einen Vorteil bieten. Für Bio ist die hohe Biodiversität wissenschaftlich sehr gut dokumentiert, sodass wir mit gutem Gewissen damit werben.»
Wird in den Medien zu wenig über das Thema Biodiversität berichtet? «Das Thema ist in den Medien präsent, aber für viele Leute zu wenig fassbar. Während die Landwirtschaft diskutiert und Massnahmen trifft, übernehmen viele Leute in Dörfern und Städten keine Verantwortung», heisst es von Bio Suisse.
Medien sollen Berichterstattung verstärken
Gleichzeitig hebt Pro Natura den Mahnfinger Richtung Medien und Politik: Die nationalen Wahlen böten die Gelegenheit, die Biodiversitätskrise in einem «Mass sichtbar zu machen, das dem Problem gerecht wird». Journalist(innen) sollten deshalb das Thema in Befragungen der Kandidierenden aufnehmen.