«Die Bäuerin Edith Spescha sitzt am vergangenen Montag beim Frühstück. Da sagt ihr Mann Hubertus: 'Schau, da kommt ein Fuchs über die Wiese.' Das Ehepaar tritt vor die Tür seines Hofes im Bündner Dorf Pigniu und erkennt, dass es nicht ein Fuchs ist, der sich nähert, sondern vier ausgewachsene Wölfe».

So beginnt ein Artikel der NZZ über die unheimliche Begegnung einer Bündner Bauernfamilie mit dem Wolf, welche diese auch gefilmt hat. Der Text beschreibt eindrücklich, welche Gefühle die immer alltäglichere Präsenz des Raubtiers bei Tierhalterinnen und Tierhaltern auslöst. Deshalb geben wir den Artikel hier praktisch integral weiter. 

 

«Ein grauenhaftes Bild sei das gewesen, sagt Spescha. In aller Ruhe hätten sich die Wölfe in Richtung Hof bewegt. Die Bündnerin bekommt es mit der Angst zu tun. Im Stall der Familie Spescha befinden sich 32 Schafe mit 35 Lämmern und 29 Mutterkühe mit ihren Kälbern – und die Türe zu den Tieren ist nicht verschlossen.

Zurück bleibt das Unbehagen

Doch das Wolfsrudel zeigt kein Interesse, weder an Mensch noch an Tier. Es zieht oberhalb des Hofes, etwa 20 Meter entfernt, vorbei und verschwindet im Wald. Zurück bleibt das Unbehagen: 'Es macht Angst, wenn die Tiere so nahe kommen – und das auch tagsüber', sagt Spescha. Seit dem Vorfall wache sie nachts auf und fürchte, dass wieder Wölfe um ihr Haus schlichen.

In den umliegenden Dörfern im Bündner Oberland werden die Raubtiere derzeit fast täglich gesichtet. Im Januar wurde in Obersaxen ein Wolf fotografiert, der sich auf der Skipiste beim Kinderland der örtlichen Skischule bewegte. Spescha sagt: 'Wir machen uns deshalb grosse Sorgen.' Ab Frühling schicke man die Tiere auf die Weide – und müsse davon ausgehen, dass ein immer grösserer Teil gerissen und getötet werde. Viele Schafhalter hätten wegen der Wölfe ihre Herden bereits aufgegeben.

Kein auffälliges Verhalten

Den Bündner Behörden ist die Sichtung oberhalb des Dorfes Pigniu bekannt. 'Wenn sich Wölfe tagsüber in der Nähe von Siedlungsgebieten aufhalten, schauen wir genau hin', sagt Jagdinspektor Adrian Arquint. Ein Wildhüter sei auch vor Ort gewesen. Hinsichtlich der Filmaufnahme könne man nicht von einem auffälligen Verhalten sprechen. Im Winter komme das Wild häufig in die Nähe der Siedlungen. Da komme es vor, dass dem Wild Wölfe folgten.

Im Bündnerland wächst die Wolfspopulation rasch. Im letzten Jahr wurden im Kanton vier Rudel gezählt – laut Arquint werden es bald mehr sein. 'Es ist klar, dass unter diesen Voraussetzungen häufiger Wölfe gesichtet werden – teilweise auch aus naher Distanz.' Als problematisch stufe man das Verhalten der Raubtiere ein, wenn sie die Scheu vor dem Menschen verlören und sich auch tagsüber in Siedlungen aufhielten, weil sie dort Futter fänden.

Vier Jungtiere geschossen

Um solchem Verhalten vorzubeugen, haben die Bündner Jagdbehörden im vergangenen Jahr auch Wölfe im Rudelverband geschossen, um damit die überlebenden Tiere zu vertreiben. Aus dem elfköpfigen Rudel beim Piz Beverin etwa wurden im Herbst vier Jungtiere geschossen. Zuvor waren im Streifgebiet des Rudels 15 Ziegen getötet worden.

Auch in Pigniu habe man Wildhüter postiert, um zu beobachten, ob die Wölfe zurückkehrten, und – falls nötig – Vergrämungsschüsse abzugeben, sagt Arquint. Dies sei jedoch nicht der Fall gewesen.»

Vielen Dank der NZZ für die interessante Recherche!