Alphirten melden vermehrt, dass der Wolf die Scheu vor dem Menschen verliere, und befürchten, dass früher oder später auch Menschen angegriffen werden könnten. Vor einer solchen Entwicklung warnte der inzwischen verstorbene kanadische Wildtierbiologe Valerius Geist bereits 2007 in einem Report. Geist hatte zwei Problemrudel in Kanada studiert und die Beobachtungen mit Daten von Forschern aus Russland, Skandinavien, Europa und dem Nahen Osten verglichen. Daraus entwickelte er ein Modell von sieben Stufen der Eskalation, in denen sich Wölfe von scheuen und selten gesehenen Tieren zu einer Gefahr für Menschen entwickeln.

1. Wölfe rücken näher an den Menschen heran: Grund dafür ist oft, dass die Beute im ursprünglichen Revier knapp geworden ist, weil Wildtiere das Gebiet verlassen und Nutztiere effektiv geschützt sind.

2. Wölfe tauchen nachts in der Nähe des Menschen auf: Bemerkbar macht sich dies durch lautes und häufiges Bellen von Hunden und verstärkter nächtlicher Aktivität von Herdenschutzhunden, die das Rudel konfrontieren. In diesem Stadium beschränkt sich dies auf Bellen und Heulen. Das Heulen der Wölfe wird nun auch am Tag gehört.

3. Wölfe tauchen tagsüber in der Nähe von Menschen auf und beobachten sie bei alltäglichen Aktivitäten: Die Wölfe lernen durch nahe, ständige Beobachtung. Erste Wölfe nähern sich Gebäuden bei Tageslicht.

4. Wölfe greifen tagsüber kleine Nutz- und Haustiere an: Hunde werden Ziel von Konfrontationen. Es kommt zu ersten Situationen, bei denen Menschen, die im Gelände mit Hunden unterwegs sind, diese vor den Wölfen verteidigen müssen. Gegenüber Menschen zeigen sich die Wölfe noch gehemmt, kleinere Nutztiere werden aber bereits voll attackiert. Wölfe beginnen, Risse mit Knurren und Zähnefletschen zu «verteidigen» – sie etablieren ein Revier.

5. Wölfe greifen vermehrt grosse Nutztiere an: Sie versuchen, Rinder oder Pferde zu überwältigen. Diese weisen abgetrennte Schwänze, geschlitzte Ohren oder Verletzungen an den Sprunggelenken auf. Erste schwer verletzte Rinder werden aufgefunden, typischerweise mit Verletzungen an Euter, Leistengegend und Genitalien. Wölfe werden mutiger, folgen Reitern, betreten Gärten, blicken durch Fenster.

6. Wölfe wenden ihre Aufmerksamkeit den Menschen zu: Sie nähern sich einzelnen Personen und wagen erste zögerliche, spielerisch wirkende Annäherungsversuche, etwa indem sie an Kleidern ziehen oder nach den Beinen schnappen. Noch fliehen sie bei Gegenwehr. Risse werden bis auf eine Distanz von zehn bis zwanzig Schritten mit Gebell und Zähnefletschen verteidigt.

7. Wölfe greifen Menschen an: Erste Attacken sind noch so unbeholfen, dass sie von einer starken erwachsenen Person abgewehrt werden können. Höhepunkt sind Angriffe durch Rudel, gegen die sich selbst bewaffnete Personen nicht mehr wirksam verteidigen können.

AboWölfe reissen längst nicht mehr nur Schafe, sondern auch Rinder. Die Älplerinnen und Älpler machen einen guten Job und behalten ihre Tiere im Auge. Trotzdem kommt es zu Rissen. WolfsrisseOhnmacht und das Gefühl, zu versagenMontag, 18. Dezember 2023 Valerius Geist warnte in der Folge vor einer weiteren Verharmlosung des Wolfs. Gerade scheinbar zutrauliche und verspielte Wölfe seien ein deutliches Gefahrensignal, das ernstzunehmen sei. Solche Vorfälle konnten in Europa in den letzten Jahren mehrfach beobachtet werden.

Niederlande: Am 16. Juli griff ein Wolf in einem Naturschutzgebiet nahe Utrecht ein Mädchen an, ohne es zu verletzen. Eine Woche zuvor hatte er in demselben Gebiet einen Hund weggeschleppt. 2023 biss ein Wolf in der Provinz Drenthe einen Bauern in den Arm. Der Landwirt hatte versucht, den Wolf zu vertreiben, nachdem dieser ein Schaf gerissen hatte.

Italien: Im Januar 2022 begegnete ein Skifahrer in Folgaria am Nachmittag sieben Wölfen. Diese attackierten seinen Hund und töteten ihn. Der Mann versuchte sich zu verstecken und setzte einen Notruf ab, wurde von den Wölfen aber weiter beobachtet. Die Raubtiere verliessen den Ort erst, als die Hilfe eintraf.

Schweiz: Im Januar 2022 schossen die Bündner Behörden einen «Problemwolf» bei Sumvitg. Das Tier habe sich «gefährlich nahe» an Menschen in Siedlungsnähe getraut, teilte der Kanton daraufhin mit. Zuletzt habe er sich einer Person genähert und sei über einen längeren Zeitraum bei ihr geblieben, dies bei einer Entfernung von zwei Metern.