Tracht tragen, einfach so. In Tracht einkaufen gehen, einen Kaffee trinken, oder auch mal nichts tun. Für viele Trachtenfrauen unvollstellbar. «In Tracht muss man im Verein jodeln, singen oder tanzen, höre ich in den Gesprächen mit den Frauen unseres Trachtenvereins», weiss Elena Kaiser aus Stansstad. «Ohne Verein fehlt ihnen quasi die Legitimation, ihre Tracht zu tragen.»
Der Trachtenverein Stans liegt den 30 Mitgliedern am Herzen, es sind «leidenschaftliche Trachträgerinnen» dabei. Einmal die Woche trifft man sich zur Jodel- und Gesangsprobe, geht gern ein Glas zusammen trinken, hilft sich gegenseitig. Doch sich für ein Amt zur Verfügung stellen, das will niemand. «Die Ältern waren alle schon mal im Vorstand und mögen nicht mehr. Die Jüngeren sind mit Beruf, Kindern und anderen
Hobbys mehr als ausgelastet.»
Als Präsidentin eingetreten
So kam es, dass Elena Kaiser, als sie vor sechs Jahren eintrat, gleich Präsidentin wurde. «Eine steile Karriere», lacht sie. «Doch so geht es nicht weiter. Ich bin die einzige im Vorstand, alle anderen Chargen sind vakant. Das geht vielen Vereinen so. Die bisherigen Muster funktionieren einfach nicht mehr. Es braucht neue Strukturen.»
Der Freude an der Tracht tut das keinen Abbruch. Ihr eigenes Nidwaldner «Sonntagsgwand» hat Elena Kaiser selbst genäht; allein für die Stickereien brauchte sie über 100 Stunden. «Ich bin stolz auf meine Tracht, trug sie auch zu meinerHochzeit.» Beim Anziehen der Einzelteile müsse man sich strikt an eine Reihenfolge halten, sonst klappt es nicht. «Ich mag nur schon dieses Ritual sehr. In Tracht sieht man sich ganz anders.»
Ein Faible für historische Mode
Elena Kaiser wuchs im bündnerischen Davos auf, wanderte als 15-Jährige mit ihrer Mutter nach New York aus und kam mit 27 zurück in die Schweiz. Heute wohnt die Kulturmanagerin mit ihrem Mann in Stansstad und arbeitet als Leiterin der Kinder- und Jugendförderung im Haus der Volksmusik in Altdorf.
Sie ist vor rund zehn Jahren zur Tracht gekommen und hat seither viele Bücher zum Thema gelesen. «Mode aus alten Zeiten interessierte mich schon immer. Und eine Tracht ist historische Kleidung mit lokalem Bezug.» Doch längst nicht alles, was man heute als «Tracht» bezeichne, lasse sich historisch belegen, gerade bei den Werktagstrachten. «Die meisten entstanden erst 1939, wurden speziell für die Landi entworfen.» Die Sonn- und Festtagstrachten orientieren sich am 19. Jahrhundert.
Bei der Nidwaldner-Tracht sei so manches Detail von Söldnern importiert worden. Ihre eigene Sonntagstracht hat eine viktorianische Form mit grossem, breitem Gürtel und hochgesetztem, falschen Kartonbusen. «Diese Form gibt es sonst nirgends in der Schweiz.»
Die Reissäckli hingegen, für viele typisch für das Nidwaldner-Gwand, kamen erst nach den 1920er-Jahren. Das gilt auch für die üppigen Handorgel-Ärmel. Elena Kaiser ist daher wieder davon weggekommen. «Dazu kommt: Die Handorgeln sind aufwendig zu bügeln, das konnte ich nicht selbst machen, und ausgesprochen unbequem.» Nach einem Gespräch duldet die Trachtenkommission die Bluse im alten Stil. «Diese Reglementierung ist manchmal schwierig und viele verlieren so den Bezug zur Tracht. Im Gegensatz zur Dirndlmode in Österreich und Bayern fehlen uns Alternativen ohne Zwang.»
Vorsicht Folklore
Um dem Trachtenverein Stans neues Leben einzuhauchen, krempelte Elena Kaiser unter anderem dessen Webseite mithilfe von Profis völlig um. «Eine altmodische Page zementiert das rückständige Image, das viele von Trachtenvereinen haben.» Für den Neuauftritt bat sie, wie andere kulturelle Institutionen auch, selbstbewusst den Kanton um finanzielle Unterstützung. «Wir sind schliesslich auch Kultur.»
Nichts anfangen kann die 40-Jährigemit dem Begriff «Folklore». «Das ist für mich ein Schimpfwort. Folklore klingt nach künstlich und aufgesetzt und Gaudi. Ich organisiere auch keine Heimatabende, das funktioniert im eher städtisch orientierten Stans nicht.» Was Erfolg hatte, war die Modenschau «Heimatgwand» im letztenJahr. Die lokale Trachtenschneiderin Dunja Rutschmann präsentierte Alltagsmode mit Elementen des Nidwaldner-Gwands.
Der Trachtenverein Stans zeigte alle Facetten der traditionellen Tracht auf dem Laufsteg, sang und jodelte. Und Menschen aus zwölf Ländern führten ihre Trachten vor. «Tracht und Tanz gibt es in allen Kulturen. Wir alle haben das Bedürfnis, unsere Identität durch Kleidung zu identifizieren.» Durch internationale Firmen hat die Region viele Zuwanderer. «Wenn die Migration das Ortsbild ändert, müssen auch wir uns ändern, statt uns an ein Ideal aus den 1950er-Jahren zu klammern. Schirme ich meine Kultur ab und leben sie nur im Kämmerchen, geht sie kaputt. Die Alternative ist, stolz auf das zu sein, was wir haben, die Zugezogenen ebenfalls dafür zu begeistern und sie mit einzubinden.
Verein = vereint
Doch einen Trachtenevent zu organisieren, entspreche über Monate hinweg einer 20-Prozentstelle. «Ich machte das wirklich mit Herzblut. Aber ein Verein heisst auch: vereint. Es kann nicht sein, dass nur eine Person den Karren zieht.»
Da ein Verein von Gesetz wegen mindestens drei Personen im Vorstand haben muss, suchten Elena Kaiser und die Mitglieder eine neue Form. «Interessengemeinschaft, Stammtisch, Projektgruppe: Wir haben alles durchdacht. Es bleibt die Frage, wie wir die Finanzen regeln. Keine dieser Organisationsformen kann zum Beispiel ein Konto eröffnen oder öffentliche Zuschüsse beantragen.»
Weitermachen wie bisher ist keine Option. An der nächsten Generalversammlung geht es für Stans konkret darum, ob der Verein aufgelöst wird oder fusioniert. «Das fällt vielen schwer. Hinter uns stehen 80 Jahre Vereinsgeschichte. Viele möchten weitermachen, möchten singen, jodeln und Tracht tragen.»
U-30 Engagement
Ganz anders sieht die Situation im urnerischen Andermatt aus. Auch diese Trachtengruppe war überaltert und döste im Dornröschenschlaf vor sich hin. «Schon meine Grossmutter war dabei und ich fand es schade, dass kaum mehr etwas lief», sagt die 28-jährige Yvonne Zigerlig, seit einem Jahr Präsidentin der Gruppe. Zusammen mit einer Freundin machte sie sich auf, Gleichaltrige aus dem Dorf für die Trachtengruppe zu motivieren. Inzwischen gehören acht Frauen und zwei Männer unter 30 zur Truppe.
«Am Anfang befürchtete die damalige Präsidentin, der Verein habe uns wenig zu bieten», ergänzt die 29-jährige Aktuarin Martina Tresch-Regli, die ebenfalls zu den U-30-Mitgliedern gehört. «Die Bedenken verflogen rasch, und wir bekamen im Dorf, im Verein und vom Kantonalverband enorm viel Unterstützung.»
Das war vor zwei Jahren. Inzwischen sind die jungen Frauen nicht nur voll im Verein integriert, sie bestreiten mit Begeisterung gar den ganzen Vorstand. «Wenn man in der Tracht auftritt, sind die Reaktionen immer positiv, zum Beispiel an der Talgemeinde», sagt Yvonne Zigerlig zu ihrer Motivation. «Die Leute freuen sich besonders, dass auch junge Leute in der Tracht dabei sind und tanzen. Und man ist immer richtig angezogen.»
«Brüüchtum und Frindschaftä»
Es sei keineswegs so, dass alle der jungen Mitglieder schon immer einen Bezug zu volkstümlicher Musik gehabt hätten. Das sei ein Vorurteil. «Viele meinen, wer im Trachtenverein mitmacht, ist in der SVP, Bauerntochter und fleissige Kirchgängerin», schmunzelt Yvonne Zigerlig. Dabei reiche es, Freude am «Brüüchtum und Frindschaftä pflägä» zu haben, wie es auf der Webpage der Urner Trachtenvereinigung heisst, und sich im Dorf zu engagieren.
So wird sich die Trachtengruppe Andermatt zum Beispiel am Unspunnenfest in Interlaken zeigen, was – wie alle Trachtenevents – einiges an Vorbereitung verlangt. «Viele denken:‹easy, die tanzen jetzt mal› und wissen gar nicht, was hinter einem Verein oder einem Anlass steckt», sagt Martina Tresch-Regli, Journalistin beim Urner Wochenblatt und Mutter von 18-monatigen Zwillingen.
Frischer Wind
Überhaupt zu einer Andermatter- Tracht zu kommen, brauchte zu Beginn etwas Aufwand. Nur drei der acht Frauen konnten eine Tracht von Mutter oder Grossmutter übernehmen. «Doch einige ältere Andermatterinnen waren bereit, ihre Trachten günstig zu verkaufen», so Yvonne Zigerlig, die als ausgebildete Textilwirtschafterin bei einer Berufsbekleidungsfirma im Innendienst arbeitet. «An einer grossen gemeinsamen Anprobe wurde uns dann gezeigt, wie man die Tracht richtig anzieht und trägt.» Was noch fehlte, waren «Meitlichäpli» und Haarpfeile, die für Unverheiratete dazugehören. Die Andermatterinnenfanden sie via Anzeige im Urner
Wochenblatt.
Nun wollen die jungen Frauen den Verein Schritt für Schritt modernisieren. Zum Beispiel die bisherigen Statuten aus dem Jahr 1975 überarbeiten, ein neues Logo kreieren, Trachten-T-Shirts entwerfen, längerfristig eine Tanzgruppe aufbauen. Um Erfahrungen zu sammeln dürfen sie zusätzlich bei der Trachtengruppe Flüelen mittanzen. «Ganz entspannt und bislang ohne Vorstands-Verantwortung. Wir helfen aber gern tatkräftig im Verein mit», sagt Yvonne Zigerlig. Da bleibt mehr Zeit fürs Zwischenmenschliche: Bereits hat sich ein Pärchen aus Flüelen und Andermatt gefunden.
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