Ich wollte nie einen 365-Tage-Job, das hatte ich mir schon als Bauerntochter fest vorgenommen!» Pia Fassbind lacht und serviert einen Kaffee im Vorraum der «Heubühne». «Und jetzt habe ich gleich mehrere Hüte auf.» Seit Oktober 2017 ist der ehemalige Futter-Lagerraum umgebaut und wird als Festsaal, Theater- und Seminarraum genutzt. An der Bar gibt es den hofeigenen Mispelbrand und eigenes Bier zu kosten. Im «Salon-Stübli» steht ein Cheminéeofen und vom Balkon sieht man runter auf Hühner, Zwergschweine und -ziegen. Auf ein Kräutergärtchen und den Eingang zum Hofladen.

Als «Leiterin Kulturhof Hinter-Musegg» ist Pia Fassbind zuständig für die Gesamtleitung aller Bereiche. Sie ist zudem Bäuerin, Personal-, Finanz- und Kommunikationsfachfrau, zeichnet verantwortlich für das Kulturprogramm, hilft in der Gastronomie mit und verwaltet die Gebäude der Stiftung Hinter-Musegg.

Vielseitigkeit mal zwei

Die 49-Jährige ist im luzernischen Schwarzenberg auf einem Bauernhof aufgewachsen. Sie und ihre beiden Geschwister mussten immer auf dem Hof mithelfen. Wädi, wie ihr Mann Walter genannt wird, hat ebenfalls einen bäuerlichen Hintergrund: Seine Eltern bewirtschafteten ebenfalls einen Landwirtschaftsbetrieb, im Nebenerwerb.

Pia und Wädi entschieden sich, einen anderen Weg zu gehen als die Eltern. Sie lernte Kindergärtnerin, absolvierte die Handelsschule, wurde Personalfachfrau und studierte schlussendlich Theaterwissenschaft in Bern. Während zehn Jahren war sie Co-Leiterin des Kleintheaters Luzern. Walter Fassbind lernte Elektriker, machte die Technikerschule, ein Nachdiplomstudium in Betriebswirtschaft und Informatik und hängte ein Studium zum Umweltingenieur dran. Schliesslich entschied er sich dann, doch noch eine Ausbildung zum Nebenerwerb-Landwirt zu machen.

Im Jahr 2000 schrieb die Stadt ­Luzern die Verpachtung des Hofes Hinter-Musegg neu aus. Mit nur 2,4 Hekt­aren Land brauchte es neue Ideen, um den Hof rentabel betreiben zu können. Unter den 80 Bewerbern punkteten Pia und Walter mit ihren Ausbildungen und bekamen den Zuschlag für den Traditionshof im Schatten der Museggtürme. Acht Jahre lang arbeiteten die beiden 100 Prozent in ihren Berufen im Theater und als Umweltingenieur, den Hof betrieben sie nebenbei. Defizite beglichen sie aus dem eigenen Sack.

Nachhaltige Neuerungen

Gleich zu Beginn stellten sie auf biologischen Anbau um. Zudem war es dem Paar ein Anliegen, den Hof möglichst nachhaltig zu betreiben: Der Solarstrom kommt vom eigenen Dach, und geheizt wird mit Erd­wärme. Auch gibt es eine Ladestation für eBike und eCycle sowie einen Solartisch mit USB-Anschluss zum Laden von Handys. Ein zum eMobil umgebauter Oldtimer wird als Solarstromspeicher eingesetzt. Der Hof produziert dreimal mehr Strom, als er verbraucht, der Rest fliesst ins Stromnetz der Stadt.

Mit neuem Konzept angekommen

Die Auflage, dass der Hof mit Rindern beweidet werden muss, erfüllten sie mit der Anschaffung von Schottischen Hochlandrindern. Das Paar kaufte vom Aussterben bedrohte Appenzeller Spitzhaubenhühner und pflanzte weitere Hochstammbäume. Wenn immer möglich arbeiten die beiden mit Pro spezie rara zusammen. Lange jedoch war nicht sicher, wie alles weitergehen sollte. Und als dann grosse Investitionen, wie tierfreundliche Stallungen und grosse Dachreparaturen, anstanden, wussten sie, dass sie mit ihren Ideen auf die Stadt zugehen mussten. Fünf Jahre lang wurde gerungen, 2013 konnte endlich mit einem neuen Konzept für einen Kulturhof gestartet werden.

Heute wird der Wert des Hofes von der Stadt und den Luzernern sehr hoch geschätzt, denn der Kulturhof ist auch ein Treffpunkt und Ort für Veranstaltungen und Bildung, sowohl für die Bevölkerung wie auch für die Touristen. Denn jährlich besuchen rund 150 000 Besucher aus aller Welt die Museggmauer und ihre Türme. Walter Fassbind hat die Aufgabe übernommen, die Türme täglich zu öffnen, zu reinigen und zu schliessen. Neben seinem Job als Stadtöko­loge in Zug.

Viel Enthusiasmus

Noch immer steckt sehr, sehr viel Idealismus im Hof. «Wir haben keine Kinder – unsere Projekte und unsere Anliegen sind unsere Kinder», sagt Pia Fassbind mit glänzenden Augen. Im Sommer betreiben die beiden zusätzlich eine Hofbeiz und einen Hofladen. Die Hofbühne ist ein Ganzjahresprojekt. Hier profitiert Pia Fassbind von ihrem Netzwerk und den Erfahrungen aus ihrer Kleintheaterzeit. Angeboten werden zum Beispiel Workshops für Kräuterkunde, Bierbrauen sowie Erlebnistage aller Art. Ein Mispelfest und ein Wildbienentag gehören genauso zum Programm wie Führungen zu den Fledermäusen oder zur Museggmauer und ein Lehrpfad. «Wir müssen uns etwas zügeln und keine riskanten Projekte verfolgen, damit wir die Verschuldung abbauen können.»

Ideen seien viele im Raum. So hat Walter, der E-Freak, wie Pia Fassbind ihren Mann liebevoll nennt, ein pfannenfertiges Ausbildungskonzept «2000 Watt» für Oberstufen vorliegen. Ein Chor für die Nachbarn, theaterpädagogische Projekte mit Kindern, Kochkurse, Gesprächsreihen? Kommt noch, es braucht nur etwas Geduld, Kreativität und Wohlwollen, bitte. Sogar die Künstler verzichten auf eine fixe Gage und spielen für vereinbarte Prozente der Einnahmen – das nennt man Risikoteilung.

Manchmal würden sie etwas schief angeschaut, sagt Pia Fassbind. Sie seien gar keine richtigen Bauern, mussten sie sich schon anhören. «Wer so was sagt, soll doch mal einen Tag lang mit uns arbeiten», kontert die Bäuerin. «Wir erfüllen sämtliche Auflagen eines zertifizierten Bio­betriebes und leisten im Kleinen das Gleiche wie ein grosser Hof. Alles, was hier geschieht, ist echt. Wir sind kein Disneyworld, kein Schau­betrieb. Wir leben nicht für die anderen, und wir haben den Stallgeruch in der Nase.»

Inzwischen haben Pia und Walter Unterstützung durch ein zweites Paar bekommen, das mit Kindern auf dem Hof lebt und den Betrieb mitführt: Irene Wespi und Raphael Zingg ermöglichen den Fassbinds Ferien und monatlich ein freies Wochen­ende. Irene ist zudem verantwortlich für die Arbeit mit Schulkindern. Mit dem Kernteam stehen rund zehn Personen fix auf der Lohnliste. Aber ohne die unzähligen ehrenamtlichen Helfer ginge es dennoch nicht.

Wir sind kein Disneyworld

Mitten in der Stadt einen Bauernhof zu betreiben, kann ganz schön aufwendig sein: Jugendliche feiern hier spontane, nächtliche Feste. Liegen bleiben zerbrochene Flaschen. Littering ist, gerade bei den vielen Touristen, ein Riesenthema. Hundehalter nutzen die grüne Oase, lassen aber die Hinterlassenschaften ihrer Tiere auf der Wiese liegen. «Das ist gefährlich für unsere Rinder, kann zu Fehlgeburten führen. Wir wenden extrem viel Zeit auf für die Säuberung der Weiden.»
Unterstützt werden sie dabei von Schülern der Heilpädagogischen Schule, die jeweils donnerstags zum «fötzele» kommen. Vandalismus? Ja, auch das ist ein Thema. Früher hätten sie Litze für die Zäune benutzt, heute müssen sie Stahldraht verwenden, der nicht einfach durchzuschneiden ist. Ab und zu werden Zaunpfähle umgeworfen.

Trotz allem möchte Pia Fassbild niemals irgendwo in einem «Chrachen» bauern. Da würde ihr das Kulturangebot vor der Haustüre fehlen. In Luzern ist alles, was sie braucht. «Der Begriff Kulturhof bedeutet Kultivierung des Landes und Pflege des Kulturerbes. Hier kann ich alles zusammenfassen, was mir Freude macht und was ich je in meinem Leben gelernt habe. Das macht mich glücklich.»

Weitere Informationen:
www.hinter-musegg.ch