D'Sybil hät's Bei ab», begrüsst der zweijährige Mitja mit ernstem Gesicht und grossen Augen die Besucher auf dem Hof Oberalp. Die beinlose Sybil scheint aber niemanden in der Familie Arnold zu beunruhigen. «Sybil war eine unserer Kühe», erklärt Vater Toni Arnold. «Sie litt Schmerzen wegen ihres verunfallten Beins, das einfach nicht heilen wollte. Wir mussten sie vor drei Tagen metzgen.»
Die verunfallte Kuh wurde direkt auf dem Hof geschlachtet. «Ich habe das von meinem Vater gelernt und für den Eigenbedarf ist es erlaubt», stellt Toni Arnold klar. Mitja und seinem vierjährigen Bruder Juri blieb die Notschlachtung nicht verborgen. «Sie sind täglich mit uns im Stall und kennen unsere Kühe», sagt ihre Mutter Sandra Bachmann. «Sie lernen so viel. Leben und Tod, die Kinder bekommen auf unserem kleinen Berghof von Anfang an viel davon mit.»
Der Hof Oberalp liegt auf 1413 Metern auf der Sonnenseite über dem Engelbergtal. Im Winter ist er nur über zwei Seilbahnen zu erreichen. Zuerst geht es mit einer roten Vierer-Gondel von Wolfenschiessen auf die Diegisbalm. Von dort fährt eine blaue Gondel auf die Oberalp.
Für Kinder wie für Rinder
Zwar nutzen auch Wanderer die Seilbahnen. Gebaut wurden sie aber, um Personen, Post und Waren von und zu den abgelegenen Bergbauernhöfen zu transportieren. Bei Familie Arnold wird im Winter immer auch mal wieder ein Rind per Seilbahn ins Tal gefahren. Rund 26 solcher «Buiräbänli» gibt es im Kanton Nidwalden, der die höchste Bergbahndichte der Welt haben soll. Bei den Gondelbahnen funktionieren einige wie die Oberalp-Seilbahn per Selbstbedienung: Kabinentüre schliessen, den grünen Knopf für Berg- oder Talfahrt drücken, und los geht's.
Martin (18), Simon (16) und Andrea (15), die drei ältesten Kinder von Toni Arnold, nutzten die Seilbahnen seit ihrem sechsten Lebensjahr selbstständig für den täglichen Schulweg. Von der Talstation aus ging es jeweils noch zwei Kilometer mit dem Velo zum Schulhaus. Am Nachmittag gondelten sie wieder hoch auf die «Oberoup», wie es im Nidwaldner Dialekt heisst. Meistens jedenfalls. Bei windigem, stürmischem Wetter fuhren die Bahnen nicht. Dann konnte es vorkommen, dass die Kinder bei Verwandten im Ort blieben.
Seit neun Jahren leben Martin, Simon, Andrea und ihre jüngere Schwester Antonia (11) mit ihrer Mutter nun unten im Tal, im rund
15 Gondelfahrt-Minuten entfernten Wolfenschiessen. Die Eltern sind geschieden. «Doch es läuft entspannt, die Kinder sind gern und regelmässig hier oben», sagt Toni Arnold.
Seit Generationen verwurzelt
Der 39-jährige Landwirt ist auf der Oberalp aufgewachsen. Seit fünf Generationen bewirtschaftet seine Familie das Bergheimet, seit drei Generationen wird sie ganzjährig bewohnt. «Ich bin das älteste von vier Geschwistern und wollte immer den Betrieb übernehmen.» Seine Eltern sind vor einigen Jahren ins Tal gezogen, der Vater arbeitet aber noch auf dem Hof mit.
Zum Bio-Betrieb gehören 115 Hektaren Sömmerungsweiden und 16,5 Hektaren landwirtschaftliche Nutzfläche in der Bergzone vier. Für Laien heisst das: Steiler geht es nicht mehr. Die Arnolds setzen auf Mutterkühe der Rasse Rätisches Grauvieh. Die Tiere bleiben auch an stotzigen Alphängen trittsicher und sind kleiner und leichter als manch andere Kuhrasse. «Wir legen Wert auf eine tierfreundliche Haltung», sagt Toni Arnold. «Den ganzen Sommer über sind die Kühe mit ihren Kälbern auf den Weiden.» Zu den eigenen Tieren kommen von Juni bis September rund 80 Stück Sömmerungsvieh von Talbauern.
Mit Sandra fand Toni vor acht Jahren eine neue Liebe. Die ausgebildete Gestalterin stammt aus einer anderen Welt. Sie ist mitten in der Stadt Zürich aufgewachsen. Doch das urbane Leben war nie richtig ihr Ding. «Ich war immer der eher ruhige Typ, der lieber durch die Natur spaziert, statt ständig wilde Partys zu feiern», erzählt sie. Seit sie auf der Oberalp lebt, haben sich neben ihren Tagesabläufe auch ihre Essgewohnheiten verändert. «Ich lebte fast zehn Jahre vegetarisch. Hier oben, mit den eigenen Kühen, habe ich eine andere Wertschätzung zum Fleisch und entwickelt.»
Mitternachtsfahrten inklusive
Vor drei Monaten ist Sandra Bachmann zum dritten Mal Mutter geworden: Ina heisst der jüngste Familienzuwachs. Die Wehen hatten mitten in der Nacht eingesetzt. Glücklicherweise wehte kaum Wind, die Seilbahnen funktionierten zuverlässig. «Wir hatten uns diesmal bewusst früher auf den Weg gemacht», erinnert sich die junge Mutter, während sie ihr Töchterchen am Küchentisch stillt. «Denn Mitja kam damals, vor zwei Jahre, schon knapp eine halbe Stunde nach der Ankunft im Spital.»
Mit drei Kindern unter fünf Jahren sind ihre Tage reichlich ausgefüllt. Doch die Mitarbeit auf dem Betrieb möchte sie nicht missen. «Am Abend machen wir die Stallarbeit gemeinsam. Für Juri und Mitja ist das sowieso ein Spass. Ina habe ich derzeit meist im Tragtuch dabei. Sie ist nicht gern im Kinderwagen.»
Von Frühling bis Herbst ist Sandra Bachmann mit den Kindern möglichst viel draussen, im Gemüsegarten oder auf den Alpweiden. «Ich geniesse es sehr, dass ich die Kinder überallhin mitnehmen kann und nicht ans Haus gebunden bin.»
Bewusste Entscheide
Regelmässig fertigen sie und ihr Mann zudem Holzschindeln. Sie schützen seit Jahrhunderten die Aussenwände der Häuser vor Witterungseinflüssen. So auch das Haus der Arnolds. Die rund 55 000 Schindeln an der Fassade des Wohnhauses spalteten Toni Arnold und ein Freund alle selbst. «Wenn wir Schindeln machen, bin ich für den Grobschnitt zuständig. Toni übernimmt den Feinschnitt, der Fingerspitzengefühl und Erfahrung bedarf», erklärt die 32-Jährige.
Sandra kam nicht blauäugig auf den Bergbauernhof.
Zuvor hatte sie schon zwei Sommer auf Alpbetrieben gearbeitet, war bereits als Kind viel in den Bergen unterwegs gewesen. Vor der Heirat absolvierte sie die Bäuerinnenschule am Strickhof, um für das neue Leben noch besser gerüstet zu sein. «Vor allem den Austausch mit den anderen Bäuerinnen schätze ich sehr. Sie kamen mich sogar zweimal hier oben besuchen.»
Vermisst sie ihre Zürcher Freunde? Die junge Mutter wiegt nachdenklich den Kopf hin und her. So ganz einfach sei es nicht, Kontakt zu halten. «Wenn ich meine Eltern in der Stadt besuche, treffe ich mich auch mit Freunden. Dann sind es oft fast zu viele Termine für so einen kurzen Zeitraum. Und hier zu uns auf die Oberalp kam bisher kaum einer. Obwohl alle davon reden.»
Im Sommer sei mehr los, dann seien die Alpbetriebe rundum bewohnt. «Im Winter ist es schon sehr ruhig. Bei der Arbeit vermisse ich es manchmal, kein Feedback von einem Team zu bekommen. Hier schaut mich höchstens mal eine Kuh schräg an.» Und die Abende? Lesen, stricken oder hin und wieder gemeinsam mit Toni einen Dokumentarfilm via Internet anschauen. Einen Fernseher gibt es auf der Oberalb nicht.
Hohe Grundzufriedenheit
Trotz der Abgeschiedenheit ist das Leben auf der Oberalp für die Arnolds sehr stimmig. Diese Grundzufriedenheit ist am Mittagstisch gut zu spüren. Wie in vielen Bauernhäusern ist die Küche das Zentrum des Hauses. Hier trifft man sich zum Kochen, Essen, Reden, Spielen. Ein grosser Tisch mit Eckbank, ein Zweiersofa, Fenster mit Blick auf den Walenstock und bei klarem Wetter Sicht bis zum Titlis.
Die Teenager gehen herzlich, ungezwungen und vertraut mit den Kleinen und Sandra Bachmann um. Unaufgefordert helfen sie beim Schöpfen, Abräumen, abwaschen – und sie wissen, wo die Süssigkeiten verstaut sind. «Ich bin ein ausgesprochener Familienmensch und geniesse das sehr», sagt Toni Arnold, während Ina zufrieden in seinem Arm am Fäustchen nuckelt. «Ich bin dankbar, dass ich nach der Scheidung mit Sandra wieder eine Frau gefunden habe, die hier oben leben möchte. Ich bin zufrieden, alle meine Kinder aufwachsen zu sehen und genügend Zeit für sie zu haben. Deshalb nehme ich auch keine Arbeit ausserhalb des Betriebs an. Und ich wünsche mir, den Hof in einem guten Zustand an eine nächste Generation übergeben zu können.»
«Mit den Kindern in einer Stadtwohnung mit Balkon zu leben, kann ich mir nicht vorstellen», ergänzt Sandra Bachmann. «Auf der Oberalp haben wir Platz, auch im übertragenen Sinn.» Wie heimisch sie sich fühlt, zeigt auch, dass sie ihr Züridütsch abgelegt hat und inzwischen Nidwaldner Dialekt spricht. «Hier oben haben wir alles. Hier können wir in unserem eigenen Takt leben.»
Weitere Informationen:
www.oberoup.ch