Die Gotthardroute liegt direkt vor dem Haus – und ist doch ganz weit weg. Helen Zurfluh sieht vom Hofplatz den Verkehr fern und winzig klein durch Erstfeld rollen. Der Lärm schafft es nicht zum Betrieb Zurfluh in Oberwiler auf 1100 Metern über Meer. Auch die Anfahrt braucht Zeit, sie geht per Selbstbedienungs-Luftseilbahn oder via Zufahrtsstrasse. Oder gar nicht bei viel Wind und Schnee.

[IMG 1]

Nicht nur idyllisch

Diese Information von Helen Zurfluh rückt das romantische Bild von der Bergidylle etwas zurecht. Für die Kinder sei die Abgeschiedenheit nicht immer lässig, informiert die vierfache Mutter: «Gspänli spontan treffen geht nicht.» Aber ja – grundsätzlich sei es hier wunderschön.

Auch wenn auf dem Betrieb derzeit keine Glocken bimmeln. Die knapp 50 Ziegen und acht Braun- und Grauviehkühe sind seit Ende Mai z Alp, einige im Tessin, der grössere Teil der Herde in Urner Kantonsgebiet. Im Käsereiraum des Betriebs herrscht darum Sommerpause. Helen Zurfluh zeigt das Kessi, das 200 Liter fasst. Damit verkäst sie etwa 6000 Liter vom Frühjahr bis zur Alpauffahrt.

[IMG 2]

Auf der Alp werden die Ziegen weiter gemolken, ab Mitte August läuft ein Bock mit der Herde. Gegen Ende der Alpsaison gehen die Ziegen galt und leben noch einige Zeit wild und frei in der Höhe.

Käse und Ostergitzi

Den Halbhartkäse vermarktet Familie Zurfluh direkt über regionale Verkaufsstellen und Marktfahrende. Ziegenkäse ist ein Nischenprodukt und lässt sich gut absetzen. Die Ostergitzi sind im Gastrokanal und bei privaten Abnehmern gefragt. Weibliche Tiere nehmen Zurfluhs nach oder verkaufen sie an andere Betriebe.

Andere Ziegen würden mehr Milch geben als die Zweinutzungsrasse Nera Verzasca mit durchschnittlich 500 Kilo Milch pro Laktation. Warum ist gerade sie auf dem Biobetrieb Zurfluh heimisch geworden? «Das fragen wir uns manchmal auch, wenn die Ziegen wieder besonders eigensinnig sind», sagt die Bäuerin und lacht. Denn sie mag gerade das Temperament und den Charakter der grossen, kräftigen Tiere. «Wenn der Zaun nicht mindestens 110 Zentimeter hoch ist, springen sie drüber.» Die Nera Verzasca ist genügsam im Futter und bringt mehr Fleisch als andere Rassen. Die Tiere seien sehr robust, sie kämen mit rauem Wetter und heissen Temperaturen gut zurecht, erzählt Helen Zurfluh. «Die Nera Verzasca passt einfach auf unseren Betrieb.»

Ausserfamiliärer Betrieb

Dem stimmt Helens Ehemann Walti zu. Er hat weiter unten Sträucher ausgemäht, jetzt ist er den steilen Hang aufgestiegen, ohne ausser Atem zu kommen, und begrüsst den Besuch. Helen und Walti Zurfluh sind beide auf Urner Landwirtschaftsbetrieben aufgewachsen, bei der Hofübernahme kamen Geschwister zum Zug. Den Betrieb in Erstfeld konnten die beiden ausserfamiliär kaufen.

[IMG 3]

Den Innenausbau im Ziegenlaufstall habe ihr Mann mehrheitlich selbst gemacht, erklärt die Bäuerin auf der weiteren Betriebsführung. Gemolken wird an der Fressachse mit drei Aggregaten. Die Jungtiere wohnen in einem separaten Stall, sie werden mit dem Eimer getränkt und bekommen auch Kuhmilch, damit mehr Ziegenmilch verkäst werden kann.

Einmal pro Woche ins Dorf

Vom Stall geht es zum Wohnhaus an Helen Zurfluhs Garten vorbei. «Eigenes Gemüse ist praktisch», sagt die Bäuerin. Sie fährt in der Regel nur einmal pro Woche ins Dorf hinunter zum Einkaufen und Käseverteilen.

In den Wintermonaten mietet die Familie jeweils eine kleine Wohnung im Dorf unten für jene, die es wetterbedingt nicht nach Hause schaffen. Die vier Kinder im Alter von 13, 18, 21 und 23 Jahren wohnen alle noch zu Hause und helfen auch mit. Der älteste Sohn startet dieses Jahr die Zweitausbildung als Landwirt, die älteste Tochter hat soeben die Bäuerinnenschule Gurtnellen abgeschlossen.

[IMG 4]

«Ich wollte schon immer Bäuerin werden», sagt Helen Zurfluh. Nach ihren Lieblingsmomenten gefragt, erzählt sie vom Alpauftrieb der Tiere mit der ganzen Familie. Oder wenn sie an einem Sommerabend im Garten beschäftigt ist und der Ton des Heubelüfters anzeigt, dass tagsüber Futter ins Trockene gebracht wurde.

Helen Zurfluh ist Vizepräsidentin des Urner Bäuerinnenverbands, sie unterhält die Website und organisiert Anlässe und Kurse. «Es tut den Frauen gut, sich zu treffen und zu reden», sagt sie. Im Winter könne es schon trüb und einsam werden auf den Bergbetrieben hier oben. Sie selber kommt mit der Abgeschiedenheit zurecht: «Ich kann gut allein sein und habe immer etwas zu tun. Und ich liebe die Berge.» Sie sieht jedenfalls keinen Grund zum Neid auf Flachländer. Ausser vielleicht in einem Punkt: «Ich würde gerne mehr Traktor fahren.» Dazu gibt es im steilen Gelände wenig Gelegenheit, da ist vieles Handarbeit.

Heuen, heuen, heuen

So hat Helen Zurfluh nicht etwa Ferien, wenn die Tiere z Alp sind. Im Sommer heisst es: heuen, heuen, heuen. Auf 32 Hektaren meist steilen Hängen zwischen 900 bis 1400 Metern über Meer wird Futter für den Winter eingebracht. Wenn es einmal Pause gibt, entspannen sich Helen und Walti Zurfluh lieber beim Bergwandern statt auf der Feierabendbank. «Ab 2000 Metern wird es richtig schön», sagt die Bäuerin.