Ob im Elternmagazin, im Erziehungsratgeber oder im Onlineblog: Als Mama oder Papa von kleineren Kindern scheint man im Moment ständig über den Begriff Co-Regulation zu stolpern. Sabine Kinzer erklärt im Interview, was Co-Regulation überhaupt ist und wie man sie richtig anwendet. Sie ist als Fachfrau Erziehung und in der Elternberatung für die frühe Kindheit bei Pro Juventute im Raum Appenzell Ausserrhoden tätig.

Frau Kinzer, was ist Co-Regulation überhaupt?

AboFür ein Kleinkind ist die Ankunft eines Geschwisterchens mit vielen Unsicherheiten verbunden. Eifersucht ist da ganz normal. GeschwisterneidWas tun, wenn die eigenen Kinder aufeinander eifersüchtig sind?Donnerstag, 27. Oktober 2022Sabine Kinzer: Co-Regulation in der Erziehung bedeutet unter anderem, dass Eltern den Kindern helfen, ihre Gefühle wahrzunehmen und zu benennen. Wenn ein Kind von einem emotionalen Wirbelsturm erfasst wird, reagieren die Eltern empathisch, sind präsent und vermitteln, dass auch negative Gefühle in Ordnung sind und gefühlt werden dürfen. Durch Co-Regulation können sich Kinder emotional weiterentwickeln und lernen, sich mit der Zeit besser selbst zu regulieren. Ziel ist es, dass Kinder etwa mit vier oder fünf Jahren ihre Gefühle benennen können und sich nicht mehr wie in der Trotzphase auf den Boden werfen müssen, um ihre Emotionen auszudrücken. Durch Co-Regulation vermitteln die Eltern dem Kind: «Ich liebe dich, so wie du bist, auch wenn du wütend bist.»

Wie wendet man Co-Regulation am besten an? Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Ja, Co-Regulation beginnt schon unmittelbar nach der Geburt. Ein Baby weint, weil die Windel voll ist, es Hunger hat oder Nähe braucht. Wenn das Baby getröstet, gewickelt, gefüttert oder herumgetragen wird, lernt es, dass seine Bedürfnisse wahrgenommen und erfüllt werden. Es erfährt Sicherheit und eine sichere Bindung. Da das autonome Nervensystem von Kindern noch nicht ausgereift ist, können sie sich selbst noch nicht regulieren. Die Eltern übernehmen in solchen Situationen die Regulation von aussen, um dem Kind zu helfen.

«Es geht darum, die Emotion auszuhalten und dem Kind Raum zu geben, um sich zu beruhigen.»

Man sollte das Kind nicht zu früh aus seinem Gefühl reissen, erklärt Sabine Kinzer.

Gehen wir mal ein paar Jahre weiter in der Kindheit. Wie verhält man sich bei einem Wutanfall, zum Beispiel im Supermarkt?

AboDer erste Schultag – ein aufregendes und womöglich auch einschneidendes Erlebnis für das Kind.ErziehungWann ist ein Kind schulreif? Und wie kann man es bezüglich Schuleintritt unterstützen?Montag, 1. Mai 2023 Nehmen wir an, das Kind durfte sich eine Süssigkeit aussuchen und diese liegt bereits im Einkaufswagen. Nun möchte es aber noch eine zweite und wirft sich auf den Boden, weil es diese nicht bekommt. Die Mutter oder der Vater bleibt nach Möglichkeit ruhig und sagt zum Kind: «Ich sehe, dass dich das wütend macht. Du hättest gerne eine zweite Süssigkeit, aber wir haben vereinbart, dass es nur eine gibt.» Wichtig ist auch, den «Raum zu halten», das heisst, das Kind in seinem Gefühl zu lassen, ohne es abzuwerten oder zu unterbrechen. Es geht darum, die Emotion auszuhalten und dem Kind Raum zu geben, um sich zu beruhigen. Wichtig ist, gewaltfreie Kommunikation einzusetzen und zu überlegen, welches Bedürfnis eigentlich hinter dem Wutanfall steckt. Man sollte das Kind nicht zu früh unterbrechen, also zum Beispiel nicht einfach hochheben und aus dem Laden tragen. Ich sage in der Beratung oft: «Stellt euch vor, ihr seid wütend auf euren Partner oder eure Partnerin und diese würde euch mitten in eurer Wut einfach hochheben und wegtragen. Das würdet ihr doch kaum akzeptieren.»

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Wie geht es weiter, wenn sich das Kind langsam beruhigt?

Nach einem Wutanfall gibt es zwei typische Reaktionen bei Kindern: Manche stehen auf und laufen auf ihre Eltern zu, weil sie nach Wut und Trauer Trost und Nähe suchen und der «Liebestank» ins Minus geraten ist. In diesem Moment ist es wichtig, das Kind in den Arm zu nehmen und nicht die Ereignisse von vor fünf Minuten wieder aufzuwärmen. Andere Kinder schaffen das nicht und bleiben liegen, während sie sich durch Weinen beruhigen. In diesem Fall gehe ich zum Kind, nehme Blickkontakt auf und frage: «Ich sehe, du hast jetzt ganz viel geweint. Möchtest du zu mir kommen und kuscheln oder möchtest du noch liegen bleiben?»

Zur Person

Sabine Kinzer ist gelernte Kinderkrankenschwester und war jahrelang im Spital tätig. Später bildete sie sich zur Beraterin, Safe-Mentorin und Fachfrau Erziehung weiter. Seit 2011 ist sie in der B­eratung von Pro Juventute tätig, ausserdem ist sie ­Naturheilpraktikerin.

Website von Sabine Kinzer

Wie kann man Co-Regulation in den stressigen Alltag mit Kindern einbauen?

Das ist oft tagesabhängig und hängt von der eigenen Verfassung ab. Vielleicht hatte man in den letzten Tagen Stress im Beruf oder hat an diesem Tag schon hundertmal Nein gesagt, und es geht einfach nicht mehr. In solchen Momenten sage ich den Eltern, dass es okay ist, sich kurz aus der Situation zu entfernen. Wichtig ist, das dem Kind zu erklären: «Ich würde gerne bei dir bleiben, aber ich schaffe das gerade nicht. Ich gehe kurz raus und komme dann wieder.» Man nimmt sich einen Moment für sich, atmet frische Luft oder macht sich einen Kaffee. Wenn man Co-Regulation neu lernt, kann es hilfreich sein, Unterstützung zu suchen, etwa durch eine Beratung. Genauso wie beim Erlernen einer Fremdsprache wird es mit der Zeit einfacher, je häufiger man es praktiziert. Man sollte dabei geduldig mit sich selbst sein und nicht nach Perfektion streben.

AboAlle Eltern kennen das: Es gibt gute und schlechte Tage. Wichtig ist, dass Kinder wissen, dass sie sich auf ihre Eltern verlassen können und so geliebt werden, wie sie sind.FamilieBedürfnisorientiert erziehen: «Das Kind nicht in seiner Integrität verletzen»Mittwoch, 4. Mai 2022

Was passiert, wenn ein Kind keine Co-Regulation erfährt?

AboManche Kinder malen gerne und früh genau aus, anderen sagt diese Tätigkeit nicht zu oder sie brauchen länger. Fachfrau äussert sichKinder entwickeln sich unterschiedlich schnell: Was heisst schon normal?Donnerstag, 4. Juli 2024 Wenn ein Kind für seine negativen Gefühle abgelehnt wird, zeigt sich das oft in der Pubertät oder im Erwachsenenalter. Solche Menschen neigen dazu, sich zu verstellen, weil sie gelernt haben, dass negative Gefühle nicht gezeigt werden dürfen. Das kann körperliche und psychische Folgen haben, weil Emotionen ständig unterdrückt werden. Auch eine unsichere Bindung in der Kindheit kann später zu Problemen führen, etwa bei der Partnersuche oder im Freundeskreis. In extremen Fällen kann es sogar zu Bindungsstörungen kommen. Wenn man als Erwachsener merkt, dass man immer wieder unsichere Bindungen erlebt, kann es hilfreich sein, mit einer Fachperson daran zu arbeiten. Denn was in der Kindheit nicht erlernt wurde, ist im Erwachsenenalter schwierig allein aufzuholen. 

Beratung zu Randzeiten

Die Elternberatung für die frühe Kindheit von Pro Juventute ist für Eltern von Babys und Kleinkindern von 0 bis 5 Jahren. Sie ist erreichbar von Montag bis Freitag zwischen 19 und 22 Uhr und am Samstag von 9 bis 11 Uhr per Telefon (Normaltarif) und Whatsapp-Chat unter der Nummer 044 256 77 99. 

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