Neben der Wohnungsklingel hängt ein gehäkeltes Türschild mit den Köpfen aller Bewohner. Im Wohnzimmer ist ein Teil des roten Sofas mit Strickdecken und Strickprojekten belegt. «Die Ecke ist mein Reich», sagt Judith Dörig. «Ich arbeite derzeit an sechs Lismeten gleichzeitig.» Sie trägt selbstgestrickte, zusammenpassende, aber verschiedenfarbige Wollsocken und einen trendigen Top-Down-Pullover, der an einem Stück von oben nach unten gestrickt wurde, natürlich auch selbst gefertigt. «Ich lisme täglich, wenn es geht schon am Morgen, auch wenn ich nur 15 Minuten Zeit habe.»

Seit 13 Jahren lebt Judith Dörig mit ihrem Mann Urs auf dem Hof Seeble in Gunzwil LU. Der Betrieb mit 18 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche, 65 Milchkühen und Poulet-Mast liegt an bester Aussichtslage etwas ausserhalb des Dorfes auf einem Hochplateau. «Ich bin im rund acht Kilometer entfernten Hildisrieden aufgewachsen und komme nicht aus der Landwirtschaft», erzählt die 40-Jährige. Doch sie habe als Jugendliche Landdienst gemacht. «Weil ich melken wollte.» Nach der Matura entschied sie sich, Militärdienst zu leisten, sie war bei den Rettungstruppen. «Mir ging es dabei um gleiche Rechte und gleiche Pflichten. Ich wollte nie einen blöden Spruch von einem Mann hören.» Schmunzelnd fügt sie hinzu: «Ich habe mehr Diensttage als mein Mann.»

Gern in die Militärseelsorge

Nach dem Militär studierte sie in Fribourg Theologie und Zeitgeschichte. Als aber ihre Mutter an Krebs erkrankte, brach sie das Masterstudium ab. «Das Studium wurde mir zu realitätsfremd», erinnert sie sich. «Ich hatte daheim eine todkranke Mutter und mochte mich an der Uni nicht mit den verschiedenen Interpretationen von theologischen Textstellen auseinandersetzen.» Sie arbeitete anschliessend unter anderem für ein Kinderhilfswerk, als Katechetin und als Verantwortliche für eine Pfarrei. Gern wäre sie in der Militärseelsorge tätig gewesen, doch dafür hätte es damals einen Master-Abschluss und eine Berufseinführung gebraucht.

Im Militärdienst, beim Abwickeln von Stacheldraht, lernte Judith Dörig auch ihren Mann Urs kennen. Mittlerweile hat das Paar drei Töchter und einen Sohn im Alter zwischen vier und zehn Jahren. In einer eigenen Wohnung auf dem Hof leben zudem die Schwiegereltern Anton und Doris Dörig.

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Beide Betriebsleiter

Weil sie mehr über die Landwirtschaft wissen wollte, machte Judith Dörig die Ausbildung zur Bäuerin mit eidgenössischem Fachausweis. Seit diesem Jahr sind sie und ihr Mann nun ein Betriebsleiterpaar. «Ich war von Anfang an auf dem Hof angestellt», erklärt sie. «Doch uns ging es dabei auch um die Gleichberechtigung. Und nicht zuletzt bin ich den ganzen Tag auf dem Hof.» Urs Dörig arbeitet als freischaffender Klauenpfleger für Rindvieh, oft zu 100 %. Daher ist auf dem Betrieb eine Vollzeit-Mitarbeiterin für die täglich anfallenden Arbeiten zuständig.

Auf dem Hof arbeitet Judith Dörig überall mit, wo sie gebraucht wird. Einen eigenen Betriebszweig wie etwa einen Hofladen möchte sie aber nicht. «Dann müsste ich produzieren, und das liegt mir nicht. Mir wird schnell langweilig. Ich probiere gern Neues aus.» Daher schreibt sie ab diesem Jahr für den Zentralschweizer Regionalbund der BauernZeitung Kolumnen. «Ich suchte nach einer intellektuellen Herausforderung.»

Als Akademikerin, die nicht aus einer Bauernfamilie kommt, würde sie manchmal etwas belächelt, so Judith Dörigs Erfahrung. «Die Rolle der Bäuerinnen und der Frauen in der Landwirtschaft ist für mich ein wichtiges Thema», sagt sie. «Ich selbst fühle mich einerseits etwas darin gefangen. Doch andererseits möchte ich nicht tauschen.» Aber auch Themen wie Umweltschutz beschäftigen sie, die Auswirkungen des Klimawandels, die Wertschätzung gegenüber Tieren. Oder die Missgunst in der Branche und das Misstrauen gegenüber anderen Bewirtschaftungsformen. «Dabei ist doch einfach die eigene Zufriedenheit wichtig, egal, wie man den eigenen Hof bewirtschaftet.»

Die Freude am Lismen blieb

Und welchen Platz in ihrem Leben hat das Lismen? «Das begleitet mich schon seit der Kindheit», erzählt Judith Dörig. Ihre Familie hatte keinen Fernseher, und da schon die Mutter viel strickte, entdeckte auch die Tochter ihre Freude daran. Judith Dörig wollte einige Zeit lang sogar Handarbeitslehrerin werden, entschied sich dann aber anders.

Die Freude am Stricken blieb und als sie in Fribourg studierte, stellte sie eine eigene Website online: Sie bot an, Mützen zu stricken. «Mit dem verdienten Geld konnte ich jeweils wieder in den Ausgang.» Auch im Militär strickte sie, unter anderem auf der Wache, während die anderen ins Handy starrten. «Doch der Kadi hat es verboten.» Noch heute hat sie praktisch immer eine Lismete dabei, auch an die Agrama oder sie nimmt sie ganz nach oben aufs Silo mit, um so die Wartezeit zu überbrücken.

Auf Instagram entdeckte sie eine internationale Strick-Community und mit Ravelry «eine Art Facebook fürs Stricken», wie sie erklärt. «So lernte ich eine neue Welt und viele neue Techniken kennen.» Mit den Anleitungen auf Englisch kommt sie gut klar. «Die sind oft einfacher als die deutschsprachigen, weil die Bezeichnungen immer gleich sind.»

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Ein Coach fürs Lismen

Mit der Zeit entstand die Idee des Strick-Coachings. Seit über zwei Jahren vermittelt Judith Dörig ihr Strick-Wissen in Kursen, in einer Strick-Werkstatt oder in Einzelstunden. «Die Leute möchten stricken, trauen sich aber oft nicht», sagt sie. «Etwa, weil sie nicht wissen, welche Wolle oder welche Anleitung sie wählen sollen. Oder weil sie mit einer Technik hadern.»

Kürzlich habe sie bei der Service-Club-Organisation «Kiwanis» einen Strickworkshop gegeben, der von vier Frauen und 17 Männern besucht wurde. «Ich drückte auch jedem Mann eine Lismete in die Hand, unabhängig davon, ob sie schon stricken konnten oder nicht», sagt Judith Dörig. Schliesslich sei Stricken ein altes Männerhandwerk, früher habe es sogar eine Zunft für Stricker gegeben. «Lismen kann beim Stressabbau, gegen Demenz und in der Schmerztherapie helfen, wie Studien belegen.» Die meisten Kurse finden in einem Woll-Laden in Sursee (Luzern) statt. «Jetzt gebe ich doch Handarbeitsunterricht – für Schülerinnen und Schüler, die wirklich daran interessiert sind», freut sich Judith Dörig.

Sechs Fragen
 
Welches Alltagsritual gehört für Sie dazu?
Jeden Tag stricken und jeden Abend ab 19.30 Uhr.

Wie offen reden Sie über Ihre Finanzen?
Ich finde es elementar wichtig, dass man offen darüber spricht, vor allem wir Frauen und in der Landwirtschaft. Es geht um Aufklärungsarbeit rund um die Lohngleichheit.

Welches Kompliment freut Sie?
Wenn man mich für meine gestrickten Sachen lobt, da steckt viel Herzblut drin.

Was gehört zu Ihren schönsten Kindheitserinnerungen?
Ich fand es toll bei uns im Quartier mit 20 Kindern, ich erinnerte mich gern an unsere Versteckis-Spiele.

Worüber haben Sie sich in den letzten 24 Stunden geärgert?
Mein Mann wollte mir sagen, wie ich den Melkstand putzen sollte.

Was ist Ihnen in einer Beziehung wichtig?
Dass man auf Augenhöhe und mit Wertschätzung kommuniziert. Und dass man offen und ehrlich ist.