Am 1. Januar 2018 war es soweit: mein kleiner Bruder übernahm den elterlichen Hof. Er, der Polymechaniker, Landwirt und Lebemann, ist jetzt Herr und Meister über 65 Hektaren Wiesen und Weiden. Und er trägt nun die Verantwortung für die 15 Milchkühe, die Rinder, Kälber, das Haus und den Hof.
Die Übergabe hat unsere Familie fünf Jahre lang beschäftigt. Manchmal intensiver, manchmal weniger. Dabei ging es nicht nur um die Frage, wie es mit dem Hof weitergeht, sondern um nichts weniger als unsere Lebenspläne. Denn der Hof ist nicht nur Wohnort, sondern Heimat; unser Ursprung, unsere Wurzeln und ein grosser Teil unserer Identität. Bis heute.
Immer wieder sprechen meine beiden Schwestern und ich nämlich von «Hei gah», wenn wir Vater und Bruder besuchen. Was macht das mit uns, wenn die Heimat in die Hände der nächsten Generation übergeht? Ich weiss es nicht. Noch nicht. Fest steht, dass die Direktzahlungen für den Hof Alad nicht mehr an Peter, sondern an Peter-Andreas Jäger ausbezahlt werden. Dass letzterer nun für die Buchhaltung, den Einkauf, den Verkauf und damit für den Betrieb zuständig ist.
Dass das so werden wird, hat sich früh abgezeichnet. Unsere beiden Schwestern und ich haben früh begonnen, unser Glück in der grossen, weiten Welt zu suchen. So sind wir nun eine Primarlehrerin, eine Hebamme und ein Agrarjournalist. Wir leben in Domat Ems GR, Lenzburg AG und in Laupen BE. Wir sind Bauernkinder, unser Bruder ist nun der Landwirt, der Bauer. Zum Glück. Er wird nämlich ein besserer Bauer, als ich das je sein könnte. Und die Welt braucht gute Bauern. Er wird so einer werden.
Ich derweil bleibe akademisch-theoretisch, bleibe der Luftikus und Träumer, der ich immer schon war (meine Mutter wüsste da ein paar Anekdoten). Oder, wie es Redaktionskollege Hans Rüssli kürzlich am Telefon sagte: «Du gehörst also zu den Journalisten, die den Weltuntergang nicht bekämpfen, sondern einfach beschreiben werden.» Ja, das mag sein. Ich mag Geschichten, Diskussionen und das grosse Ganze.
Mein Bruder ist da ganz anders. Praktisch, entspannt und pragmatisch. Diskussionen geht er gerne aus dem Weg. Und das grosse Ganze interessiert ihn nur, wenn es ihn interessieren muss. Schon immer war er der Abgeklärtere von uns beiden. Wenn ich wieder einmal auf dem Hof helfen will und noch auf der Suche nach einer intelligenten Lösung bin, die meine praktische Unfähigkeit kompensiert, macht er einfach. Nicht kopflos, sondern sehr lösungsorientiert, einfach und klar.
Ob es ihm damit gelingt, dem Betrieb eine längerfristige Perspektive zu geben, wird sich zeigen. Die Ausgangslage ist gut und schwierig zugleich, und das hat viel mit der Politik zu tun. Denn die AP 2014–17 hat in unserem Fall zu einer stattlichen Erhöhung der staatlichen Beiträge geführt. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Die Direktzahlungen sind wichtig und ökonomisch sehr wohl sinnvoll. Gerade im Berggebiet. Denn wenn unter erschwerten Produktionsbedingungen Kulturland offengehalten wird, die dezentrale Besiedelung gefördert wird, Erholungs- und Tourismusräume geschaffen werden, so ist eine angemessene Abgeltung auch richtig. Allerdings ist gerade bei hohen Beträgen der Leidensdruck geringer, sich selbst auf den Weg zu machen, und eine Perspektive zu erschaffen.
«Das ist wieder typisch», höre ich schon meine Geschwister rufen. Sie wollen vom Leidensdruck und der Politik nichts wissen. Sie interessiert viel mehr, wie wir uns künftig organisieren werden. Denn während für den Jüngsten unsere Heimat zu seiner Heimat wird, müssen wir nun endgültig weiterziehen. Was vor fünf oder zehn Jahren noch undenkbar war, ist heute Realität geworden: unser Lebensmittelpunkt hat sich verschoben. Und wir haben uns damit arrangiert.Nun müssen wir uns noch daran gewöhnen, dass wir nicht mehr einfach so ins Elternhaus latschen dürfen; dort ist nämlich ein neuer Hausherr eingezogen.
Es wäre falsch, zu behaupten, dass der Weg bis hierhin einfach war. Wir hatten manchen Streit über die Ausrichtung. Es ging um Geld und Besitz-ansprüche und um unsere Heimat. Jeder von uns wollte – mehr oder weniger stark – einen Teil davon erhalten. Obwohl wir für den Betrieb formell nie Verantwortung trugen, litten wir mit, wenn es nicht so gut ging. Wir haben die Baustellen, die grösseren und kleineren Krisen miterlebt. Am Küchentisch haben wir gewitzelt, diskutiert, gestritten, geschrien, uns wieder versöhnt und so manches Fest gefeiert.
Und bei manchem Streit wurde klar, was mein Vater wollte: Den Betrieb erhalten, bestenfalls in der Familie. Auch in den ärgsten Auseinandersetzungen hat er daran festgehalten. Und es hat sich gelohnt. Zwar muss er sich jetzt daran gewöhnen, dass nicht alles so bleibt, wie es war, sein Lebenswerk hat aber Bestand. Ich freue mich für ihn. Und ich freue mich für meinen Bruder, der ein neues Kapitel zu diesem Lebenswerk hinzufügen wird.
Hansjürg Jäger