Liebevoll streicht das Mädchen dem Stier über den Kopf. Er atmet tief durch, schliesst die Augen und wartet geduldig. Das hat er gelernt. Roi ist im April zwei Jahre alt geworden. Er ist der Siegermuni am Bernisch-Kantonalen Schwingfest in Affoltern i. E. Die Familie Käser aus Weier i. E. hat ihn aufgezogen. Stiere gehören bei Käsers dazu. Stets läuft einer im Laufstall mit den Kühen mit und ein Jüngerer kommt bei den Rindern zum Einsatz. Roi hat in den beiden letzten Jahren, seit er von Züchter Walter Lüthi, Allmendingen b. Bern, zu Käsers kam, einen Sonderstatus erfahren. Einen königlichen, der seinem Namen Roi (französisch König) und seiner Aufgabe dereinst gerecht wird.
Das Abenteuer Siegerstier
«Roi war von Anfang an ein Familienprojekt», erklärt Beatrice Käser. Ein Stier als Projekt? Und erst noch einer ganzen Familie? Ein ungewöhnliches Vorhaben. Stiere in Herden haben den grossen Vorteil, dass sie die Fruchtbarkeit der Herde im Normalfall positiv beeinflussen. Die Herdenstruktur wird von vielen Landwirten zudem als angenehmer bezeichnet. Stierige Kühe bringen meist weniger Aufregung in den Laufstall, der Stier sondert sie gerne von der Herde ab. Die Aufgaben im Herdenverband sind, zumindest nach Ansicht des Bullen, vielfältig. Das wissen Beat und Beatrice Käser, die seit vielen Jahren mit Stieren «Glück im Stall haben».
Das Ziel war klar
Der Weg mit Roi war aber von Anfang an anders, erinnern sie sich. Vielleicht, weil das Ziel, eines Tages in Affoltern mit ihm in den Ring zu marschieren, bereits klar war. Vielleicht aber auch, weil Stierenhaltung in Rois Fall für einmal nicht einfach nur Männersache war. Roi traf bei Käsers auf Melanie. Die 19-Jährige verbrachte viel Zeit mit ihm. Gemeinsame Spaziergänge als Kalb machten den Bullen zutraulich. Für die Pflege nahm sie sich viel Zeit. Roi hat sogar eine eigene Bürste, die er kennt und weiss, hat Melanie sie in der Hand, hat sie Zeit für ihn. Viel Zeit.
Die junge Frau nimmt die Bürste zur Hand und krault den Muni an seinem kräftigen Hals. Wieder schliesst er die Augen. Er ist nicht angebunden, weder am Ring, noch an seinem Halfter. Er steht da und lauscht der sanften Stimme seiner Freundin. «Guter Junge», sagt Melanie leise.
Das Fest in Affoltern ist angelaufen. Für Roi steht der grosse Moment an diesem Tag bevor. Er wird, wie es die Tradition verlangt, dem Sieger des Schwingfests als Preis angeboten. Sein Schicksal ist in eben diesen Stunden, da die Schwinger im Ring zusammengreifen, ungewiss. In seiner, den Zuschauern zugewandten Boxe, steht Roi neben Melanie. Den Kopf an ihrem Bein. Tief atmet er den ihm bekannten Geruch ein. Es ist eine Verbindung, wie sie kaum alltäglich ist. Es ist die Faszination eines Mädchens an einem grossen Tier, das wohl als gefährlichstes Nutztier gilt, das der Mensch überhaupt hält. Immer wieder passieren Unfälle mit Stieren, die nicht selten einen tragischen Ausgang haben. Melanie hat keine Angst. Sie respektiert die Grösse und die Kraft des Kolosses. Weiss, welche Gefahren im Umgang mit Zuchtbullen stecken, aber Angst hat sie nicht. Auch nicht, als Vater Beat im Januar dieses Jahres einen Unfall mit Roi hatte. Die Eigenart des Stieres, bei Aufregung blitzschnell eines seiner Hinterbeine in die Höhe zu schnellen, warf den Landwirten beim Verladen des Bullen zu Boden. Dieser verletzte ihn bei einem Tritt am Wadenbein. In der Folge schien das Verhältnis zwischen Roi und seinem Besitzer Beat Käser angekratzt.
Stiere müssen arbeiten
Es war der Moment, der die Beziehung zwischen dem Mädchen und dem Stier noch intensiver machte. Roi musste fortan mit Melanie «arbeiten». Käsers erklären, dass Stiere ihre Aufgaben kennen müssen. Es trotz einer hohen Flexibilität, die das Tier für seine Auftritte braucht, eine Regelmässigkeit im Umgang mit ihnen braucht. Einer, der einfach in der Herde mittrottet, sei irgendwann gefährlich. Die Erziehung und das dadurch entstandene Vertrauen dürfen nicht durch Leichtsinnigkeit strapaziert werden, sagen sie.
Folgt der Abschied?
Melanie Käser weiss, das Bernisch-Kantonale könnte ein Abschied für immer bedeuten. Nimmt der Sieger den Stier nach Hause, verliert sie ihn. Das sind die Regeln, mit denen sich der Halter eines solchen Stiers einverstanden erklären muss. «Er kann ihn haben. Aber nur mit mir!», sagt sie und lässt keinen Zweifel daran: Dieser Stier gehört einem Mädchen.
Kilian Wenger weiss nichts von alledem. Der König legt nach zehn Jahren seinen schwersten Kontrahenten Christian Stucki erstmals auf den Rücken. Er teilt zwar den ersten Rang mit dem Hünen, wird aber als Sieger gefeiert. In der Folge verzichtet der König auf Roi. Das Mädchen nimmt ihn nach Hause. Dahin, wo er hingehört.
Simone Barth