Unweit von Agroscope im thurgauischen Tänikon befindet sich der Lebensmittelpunkt von Rahel Osterwalder: der Hof Waldau am Dorfrand. Sie erlebt es als motivierend, wenn sie, wie jetzt an Herbsttagen bei der Most- und Tafelobsternte, mit Spaziergängern aus den angrenzenden Wohnsiedlungen ins Gespräch kommt. Wer Rahel Osterwalder begegnet, fühlt sich rasch von ihrer Spontanität und ihrer positiven Grundhaltung eingenommen. Die 32-Jährige ist es gewohnt, auf unterschiedlichste Menschen zuzugehen: «Ein Lächeln ist der schnellste Weg, mit seinem Gegenüber einen ersten Kontakt aufzubauen.» Sie bezeichnet sich als «Stadt-Bäuerin», verbindet Attribute wie Offenheit und Urbanität mit Werten der bäuerlichen Tradition und Kultur.


Zwischen Büro und Hof


Frühmorgens fährt Rahel Osterwalder zu einer Herde von Rindern und Kühen ins nahegelegene Dorf Elgg ZH. Dort sorgt sie für Frischwasser und schaut nach dem Rechten. Die Tiere gehören einem Landwirt, mit dem sie in einer Art Betriebsgemeinschaft arbeitet. Kürzlich erhielt sie Anrufe von Anwohnern der Weide, die aufgeregt berichteten, es liege ein frischgeborenes Kalb auf der Weide. «Das ist ja ideal, wenn das Abkalben auf so unkomplizierte Art geschieht», schildert sie schmunzelnd.

Rahel Osterwalder hat sechs eigene Rinder. Und im Stall ist während der Sommerzeit genug Platz für Galtkühe von einem benachbarten Betrieb. Auch im Winter bleiben die Stallplätze bewohnt: Dann sind trächtige Rinder von einem Betrieb in der Nähe untergebracht. Die junge Frau wuchs mit drei Brüdern auf dem Hof der Eltern auf. Dass sie Bäuerin werden würde, lag bei ihrer beruflichen Laufbahnplanung nicht an erster Stelle. Sie erlernte den Beruf der Kauffrau Öffentlicher Verkehr. Nach der Lehre arbeitete sie zunächst bei der SBB in Zürich. Dort fühlte sie sich am «Puls des Lebens». Es folgten «Lehr- und Wanderjahre» in verschiedenen Arbeitsstellen.

Vor einigen Jahren entschied sie, dass der kaufmännische Sektor nicht die einzige Option in ihrem Berufsleben bleiben sollte. Sie interessierte sich für die Bäuerinnenschule am Strickhof Wülflingen und absolvierte diese in der Vollzeitausbildung mit Internat. «Wie die Zeit vergeht!», sagt die Jungbäuerin. Dies liege nun auch schon bald zehn Jahre zurück. Sie erzählt: «Aber ich erinnere mich gerne daran. Ich lernte völlig unterschiedliche Frauen kennen. Zudem war ich überrascht und davon begeistert, wie überzeugt ein Teil der Bäuerinnen die Trachtenkultur pflegt.»

Um sich der Herausforderung einer Betriebsübernahme gewachsen zu fühlen, absolvierte sie zusätzlich den Direktzahlungskurs in Flawil SG. «Hier war auch die Erstellung eines Business-Plans erforderlich, dabei zeichnete sich ab, dass unser Hof prädestiniert ist für Direktvermarktung. Der Standort mit viel Publikumsverkehr ist eine gute Ausgangslage.» Bereits während der Ausbildung arbeitete sie auf dem elterlichen Hof mit.


Business-Plan erstellt


Anfang 2018 übernahm Rahel Osterwalder den Betrieb. Jetzt lebt sie wieder mit ihren Eltern Ruth und Peter Osterwalder im gleichen Haus. Ihren eigenen Wohnungsteil schmückt sie mit eigenen kreativen Dekors aus. «Ich nenne es eine glückliche Fügung, dass ich am selben Ort, wo ich aufwuchs und in die Schule ging, leben und arbeiten kann.» Ihre Brüder helfen, wann immer es ihnen zeitlich möglich ist, bei Arbeiten auf dem Feld und bei der Obsternte mit. Rahel Osterwalder räumt ein, dass viel Arbeit und Einsatz nötig sein werde, um die selbst gesteckten, ambitionierten Ziele des Business-Plans umzusetzen. «Ich koche und backe gerne, probiere Rezepturen für Konfitüren, Sirups, Eingemachtes und Kompott aus.» Ihre Mutter Ruth steht gerne mit ihr am Herd.

Der 19-Hektaren-Betrieb umfasst Natur- und Kunstwiesen, zahlreiche Hochstamm- und Steinobstbäume sowie Spezialkulturen und Ackerbau (Raps, Mais und Winterweizen). Der grösste Teil der Flächen rund um den Betrieb ist arrondiert.


Ihre beruflichen Kontakte aus Bürotätigkeiten und Jugendarbeiten kommen ihr bis heute zugute: So arbeitet sie auch heute auswärts im Teilpensum in einer Getränkehandlung und übernimmt die Administration einer Pflegefamilie. «Ich brauche die Gegenpole Stadt – Bauernhof», sagt sie. Den Hof erlebt sie als einen Lebensraum, der aussergewöhnlich viel Potenzial beinhaltet. Diesen mit Bekannten und Freunden zu teilen ist ihr ein Anliegen: «Kürzlich fragte mich eine befreundete Landwirtin, die selbst keinen Betrieb hat, an, ob sie bei mir mit einem Traktor arbeiten könne und half mir beim Emden.»


Rahel Osterwalder hat viele Ideen, wie sie ihre Direktvermarktung optimieren könnte. Ihr jüngstes Projekt steht vor der Haustüre: Es ist ein mobiler Verkaufswagen, der mittels eines vorne angebrachten Velos leicht an einem gut frequentierten Ort aufgestellt werden kann. Dieser ist einladend und wie ein «Tischlein deck dich» mit hofeigenen Produkten bestückt.


Neues ausprobieren


Rahel Osterwalder bezeichnet sich als «Frau der Tat». Ob sie eine Arbeit auf dem Hof angeht oder in der Kommission «Frauen in der Landwirtschaft» des Verbands Thurgauer Landwirtschaft mitarbeitet: Sie möchte etwas bewirken, Resultate sehen. Einfach «nur reden» oder gar jammern, wie schlecht es um die Landwirtschaft stehe, das liege ihr fern. Noch bevor sie für die Mitarbeit in der Frauen-Kommission angefragt wurde, engagierte sie sich Jahre im Vorstand der Junglandwirtekommission. Sie findet es wichtig, dass auch in diesem Gremium die weibliche Sicht miteinbezogen wird.


Die quirlige junge Frau betont, dass bei ihr in vielen Bereichen Hobbys, Beruf und Berufung ineinander übergehen. »Trotzdem liebe ich es, wenn auch einmal etwas Zeit bleibt, um Neues zu entdecken und auszuprobieren.» Sie hat schon einige Länder bereist, u. a. in Gambia einen Hilfseinsatz geleistet. «Deshalb mag ich nach wie vor das Reisen», meint die Jungbäuerin. In ihrem abwechslungsreichen Arbeitsalltag findet sie den Ausgleich bei Treffen und Gesprächen mit Freunden und bei Kreativem, wie z. B. dem Anfertigen von Dekorationen für die Wohnung oder für die Direktvermarktung.


Isabelle Schwander