Auf der bündnerischen Alp Lavaz hat man sich im vergangenen Sommer um einen guten Herdenschutz bemüht. Trotzdem wurde am 4. Und am 9. Juli 2021 jeweils ein Schaf gerissen. Beide Tiere befanden sich laut den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts (BvGr) zum fraglichen Zeitpunkt (unbemerkt) ausserhalb des Nachtpferchs. Im ersten Fall waren sich die Fachleute des Kantons Graubünden und das Bundesamt für Umwelt (Bafu) einig, dass das Schaf in einer ungeschützten Situation gerissen worden ist. Der Riss vom 9. Juli müsse aber für eine mögliche Regulation des Stagias-Rudels angerechnet werden – schliesslich waren in dieser Nacht zusätzlich zu den zwei Herdenschutzhunden (HSH) im Pferch auch zwei ausserhalb des Zauns im Einsatz, argumentiert man beim Kanton. Somit habe es innert zweier Monate 11 Risse gegeben, wovon 10 in geschützter Situation.
Welchen Bereich schützen HSH?
Hier liegt der Streitpunkt: Nach Ansicht des Bafus war das gerissene Schaf mit 200 Metern Abstand zum elektrifizierten Zaun des Nachtpferchs nicht im Wirkungsbereich der HSH. Gestützt auf den erläuternden Bericht des Bundes zur Jagdverordnung und der Vollzugshilfe Herdenschutz nennt das BvGr als Richtwert rund 20 Hektaren bei guter Sicht tagsüber und fünf Hektaren in der Nacht, auf denen ein HSH seine Herde beschützt.
Ist also ein Schaf zu weit von seiner Herde entfernt, gilt es trotz der Anwesenheit von HSH als ungeschützt. Das Bafu habe aber den fünf-Hektaren-Richtwert nicht korrekt angewandt, so der Vorwurf des Kantons Graubünden. Unter anderem wegen «Ermessensmissbrauch» wurde Beschwerde beim BvGr eingereicht.
Welche Form hat die Schutzzone?
Das Bafu zog den geschützten Bereich als Kreis mit fünf Hektaren Fläche rings um das Nachtpferch, womit der Riss vom 9. Juli in 200 Meter Entfernung ausserhalb lag. Die eingezäunte Herde sei ein «klar umrissener Orientierungspunkt» für die HSH. Beim Kanton hingegen zeichnete man die geschützte Fläche als schmales Rechteck vom Pferch weg in Richtung Rissort und kam dabei auf nur 2,5 Hektaren – so gesehen wäre das Schaf in der fraglichen Nacht geschützt gewesen. Das Bafu wende eine wirklichkeitsferne «Reissbrettgeometrie» an und reduziere die Schutzzone faktisch um den Umfang des Nachtpferchs, obwohl ich die HSH ausserhalb des Zauns um die Herde herumbewegen würden. Der Schutz sei somit gegeben, solange sich die Schafe nicht auf mehr als fünf Hektaren verteilen.
Was ist der Bezugspunkt eines HSH?
Mit der Herangehensweise des Bafu käme man zu dem Schluss, dass eine nachts eingezäunte Schafherde weniger gut geschützt sei als eine durch Hunde bewachte Herde ohne Nachtpferch bei kompakter Herdenführung, kritisiert der Kanton Graubünden.
Das BvGr hält fest, dass es zur Berechnung des Schutzperimeters keine näheren Bestimmungen oder eine gefestigte Anwendungspraxis gebe. Allerdings würden sich die HSH an der Herde und nicht einem Territorium orientieren. Durch ihre Herdentreue (die vor der Zulassung als HSH geprüft wird) blieben sie meist in der Nähe des Nachtpferchs, ausser, um kurzzeitig eine scheinbare Störquelle zu erkunden. In den Augen des BvGr macht es einen grossen Unterschied im Verhalten eines HSH, ob er eine Herde plus ein Einzeltier ausserhalb des Zauns bewacht, oder eine freie Herde in mehreren Gruppen.
Was heisst das für andere Risse?
Zwar erachtet das Gericht es in diesem Fall als richtig, die Schutzzone als Kreis ums Nachtpferch zu ziehen und damit dem Bafu Recht zu geben. Nicht bei jedem Riss sei diese Form aber sinnvoll, insbesondere wegen allfälliger Geländeverhältnisse. Unklar bleibt bei der Alp Lavaz aber, wo der Mittelpunkt des Kreises liegen sollte. Angesichts der weiten Distanz der Rissorte zum Pferch erübrige sich diese Frage in diesem Fall und das BvGr kommt zum Schluss, dass die Beschwerde des Kantons unbegründet und die erforderlichen 10 Risse in geschützter Situation nicht nachgewiesen werden können. Es gibt somit keine Abschussbewilligung für drei Jungwölfe des Stagias-Rudels. Gegen den Entscheid kann noch Beschwerde beim Bundesgericht eingelegt werden.
Dieses Gerichtsurteil zeigt, wie schwer es sein kann, zwischen einer geschtützen und einer ungeschützten Situation zu unterscheiden. Der Bündner Bauernverband spricht in diesem Zusammenhang von einem «theoretischen Konstrukt», das in der Praxis schlicht nicht anwendbar sei. Wie die Form des Schutzperimeters in künftigen Fällen gezeichnet wird, muss sich zeigen, denn wie das BvGr bemerkt, fehlen dazu bisher nähere Bestimmungen.