Aktuell macht nicht nur das nasse Wetter und die Viröse Vergilbung den Zuckerrübenbauern und den Lohnunternehmern Kummer. So sollen die Rübenproduzenten momentan eifrig am Unterschriften Sammeln sein, um eine ausserordentliche Generalversammlung des Rübenrings einzuberufen. Der diesjährige Abfuhrplan hätte unter diesen Bedingungen nicht umgesetzt werden können, ist der Lohnunternehmer Ueli Brauen aus dem bernischen Suberg sicher. So schlossen sich vergangenen Samstag Lohnunternehmer von Freiburg bis Solothurn zusammen, um die Situation zu entschärfen. Auch Nicole Schwab vom Rübenring schildert die erschwerten Umstände: «Die ganze Planung und Disposition musste kurzfristig angepasst werden. Die aktuelle Situation fordert sehr viel Flexibilität», so Schwab.
Anlagen in Aarberg sind momentan zu 80% ausgelastet
Guido Stäger, CEO der Zuckerfabrik Aarberg BE, bestätigt die prekäre Lage: «Der starke Niederschlag hat die Erntearbeit massiv behindert. Dank guter Koordination mit dem Rübenring konnte jedoch ein Unterbruch verhindert werden». Samuel Jenni, Geschäftsführer der Schweizerischen Fachstelle für Zuckerrübenbau (SFZ), bestätigt die schwierige Situation ebenfalls. «Je nach Region und Bodenart ist die Ernte erschwert und zum Teil unterbrochen. Die Logistik und Lohnunternehmer suchen zurzeit fieberhaft nach Lösungen, um in den weniger vom Niederschlag betroffenen Regionen verstärkt Rüben zu roden und diese in die Fabriken zu bringen». Nichtsdestotrotz seien gemäss Guido Stäger die Anlagen in Aarberg zu 80% ausgelastet. In Frauenfeld TG wurde die Biokampagne mittlerweile abgeschlossen und die Kampagne mit den konventionellen Rüben sei auch gut gestartet, so der CEO der Fabrik.
2021: Anbauflächen noch sehr ungewiss
Wie sich die Anbaufläche für nächstes Jahr verändern wird, hänge stark vom Entscheid des BLW ab, weiss Guido Stäger. Dies bestätigt auch Irene Vonlanthen vom Schweizer Verband der Zuckerrübenpflanzer (SVZ). Die Situation sei aufgrund der Ertragseinbussen wegen der Virösen Vergilbung sehr schwierig. «Die Bauern wollen zuerst wissen, ob die Gaucho-Notzulassung erteilt wird, bevor sie die Anbauverträge zurückschicken», so Stäger.
Die Anbaufläche könnte um 25% abnehmen
Auch Samuel Jenni schaut ernüchtert in die Zukunft des Schweizer Zuckers. «Je nach Gebiet kann die Anbaufläche stark variieren». Konkrete Aussagen über die Flächenentwicklung seien aber noch nicht machbar, erklärt Irene Vonlanthen. Es sei möglich, dass sich ein Flächenverlust von etwa 25% über die gesamte Schweiz abzeichnen könnte, so Jenni. Da die Viröse Vergilbung in den Zuckerrübenfeldern grassiert, adressierten 4300 Rübenbauern einen Brief an das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW). Die Produzenten forderten die notfallmässige Wiederzulassung des Insektizids Gaucho. Vom BLW habe man bis dato «nichts gehört», erzählt Lohnunternehmer Ueli Brauen konsterniert. Brauen hatte sich im August dafür eingesetzt, dass auch die weniger von der Virösen Vergilbung betroffene Ostschweiz den Forderungsbrief unterzeichnet.
«Wirkstoff nicht umsonst verboten»
Mittlerweile schlägt die problematische Lage im Zuckerrübenbau mediale Wellen: So besuchte das «Schweizer Radio und Fernsehen» («SRF») die Zuckerfabrik und holte Stimmen der Befürworter und Gegner der Schweizer Zuckerproduktion ein. Andreas Bosshard, Geschäftsführer des Vereins Vision Landwirtschaft, äusserte sich sehr skeptisch gegenüber der potenziellen Wiederzulassung von Gaucho. «Dieser Wirkstoff wurde nicht umsonst verboten», so Bosshard gegenüber dem «SRF». Auch der Agrarökonom Felix Schläpfer tendiert zu einer Schweiz ohne den intensiven Zuckerrübenanbau: «Würden stattdessen Getreide und Kartoffeln angebaut, wäre die Versorgungssicherheit höher». Laut Schätzungen des Zuckerrüben-Verbandes wird der durchschnittliche Erlös pro Hektare von normalerweise Fr. 4500.–/ha auf Fr. 3500.–/ha in den betroffenen Feldern fallen. Dies entspricht einem Ertragsausfall von durchschnittlich 22%.
«Wir prüfen alle Optionen»
Ob eine Notfallzulassung erteilt wird, entscheidet das BLW bis spätestens Mitte November, so Florie Marion vom BLW. Zusammen mit der Fachstelle und dem Verband prüft das Amt momentan das Ausmass der Ertragseinbussen. Es müsse eine Lösung gefunden werden, welche auch den Umweltbedenken Rechnung trägt, ist Guido Stäger sicher. Dafür müssten «alle Optionen geprüft werden», betont Marion. Zum jetzigen Zeitpunkt sei es unmöglich zu sagen, in welche Richtung der Entscheid fallen wird, heisst es beim BLW.
Bio-Branche hat weniger Angst
Die Zuckerfabrik hofft auf die Unterstützung der Politik für temporäre Massnahmen. Guido Stäger ist überzeugt, dass mit dem Untergang der inländischen Zuckerproduktion die Selbstversorgung mit einem wichtigen Bestandteil für viele Lebensmittel verloren gehen würde. Etwas positiver gestimmt ist die Biobranche. So schätzt Tobias Gelencsér vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau, dass die Bio-
Zuckerrübenfläche in Zukunft zunehmen könnte.
Zuckerrüben 2020: Was bisher geschah
1. Januar 2019: Verbot des Insektizids Gaucho. Das Verbot in der Europäischen Union (EU) tritt bereits früher in Kraft. Mittlerweile haben zahlreiche EU-Länder das Insektizid als Beiz- oder Spritzmittel wieder zugelassen. Gaucho enthält den Wirkstoff Imidacloprid und ist ein umstrittenes Nervengift.
Starker Blattlausbefall im 2020: Die durch die Blattlaus übertragene Viren (meistens Nekrotisches Rübenvergilbungsvirus/Beet Yellow Virus BYV) befallen grosse Teile der Zuckerrübenfelder und verursachen die Viröse Vergilbung. Die Westschweiz, das Seeland und das Rheintal sind besonders stark davon betroffen. Die Krankheit kann Ertragsrückgänge von 30 bis 50 verursachen. Der Grund für den starken Blattlausbefall ist unter anderem der milde Winter.
5. Juni 2020: Das Bundesamt für Landwirtschaft lehnt den Antrag ab. Eine Neuzulassung von Saatgutbehandlungen mit Neonicotinoiden stehe in der Schweiz nicht zur Diskussion, so das BLW.
August 2020: 4300 Rübenpflanzer stellen dem BLW-Direktor Christian Hofer die Forderung, Gaucho notfallmässig wieder zuzulassen.
22. September 2020: Nationalrat Pierre-André Page (SVP/FR) reicht eine dringliche Interpellation ein. Der Bund solle das Insektizid wieder zulassen. Auch solle die Produktion von Schweizer Zucker gleich lange Spiesse haben, wie das Ausland.
Runder Tisch mit diversen Akteuren der Branche: Das BLW, Fachstellen, diverse Umweltverbände und Zuckerrübenproduzenten sitzen zusammen, um eine Lösung zu finden, die «für alle passt». Der Entscheid, ob Gaucho temporär wieder zugelassen wird, solle noch diesen Herbst fallen, heisst es beim BLW.
Resistente Sorten züchten: Die Züchter arbeiten nun an resistenten Sorten. Diese werden erst in einigen Jahren zur Verfügung stehen.