Josefina Bodenmann-Wicki, genannt Schosi, wurde 1932 als achtes von 13 Kindern in die Kleinbauernfamilie Wicki im Weiler Steinibach in der Entlebucher Gemeinde Flühli-Sörenberg geboren. Sie erinnert sich noch genau an das einfache Leben in ihrem Elternhaus. In einem kleinen, im Winter eiskalten Zimmer schlief sie mit ihren zwei Schwestern in einem gemeinsamen Bett. Ein mit Laub gefüllter Sack diente als Matratze, warm gab eine mit Gänsefedern und -Flaum gefüllte Decke. «Darunter schliefen meine Schwestern Greti, Hilde und ich warm trotz der Kälte», erinnert sich Schosi. Ihre Eltern, Albert und Agatha, geborene Emmenegger, kannten keinen Luxus. Der Ertrag des Kartoffelackers, des Gemüsegartens und des Bohnapfelbaumes reichte knapp zum Überleben für die grosse Familie mit 13 Kindern. Die steilen Wiesen ernährten vier Braunvieh-Kühe, das Jungvieh und ein paar Ziegen.

Als 6-Jährige ab auf die Alp

Eines Tages im Frühling 1938 brach ein ganz besonderer Tag an, Schosi Bodenmann erinnert sich noch heute, 84 Jahre später, in ihrem Haus im aargauischen Birrhard detailreich. Früh am Morgen fuhr ihr Cousin Otto Lischer, genannt Otti, in einem mit allerlei Geräten und Bündeln beladenem Heuwagen vor. Gezogen wurde das Gefährt von einer Freiberger Stute. «Schosi, heute fahren wir auf die Alp», überraschte Otti die sechsjährige Schosi, welche noch nie das Dorf Fühli verlassen hatte. Schosi bestaunte das Gespann und das Fohlen, welches die Pause nutzte und Milch von der Stute trank.

Ihre Mutter, Agatha Wicki-Emmenegger, brachte ein kleines Kleiderbündel aus dem Haus, warf es auf den Wagen und verabschiedete sich anschliessend von Schosi: «Ich wünsche dir eine schöne Zeit auf der Alp». Zugleich half sie ihr, auf den Wagen zu klettern. Und schon rollte das Gespann vom Hof. Otti lenkte den Wagen talaufwärts Richtung Flühli. Fröhlich trabte die Stute auf der staubigen Strasse, das Fohlen rannte nebenher, voraus oder hinter dem Wagen. Schosi sperrte ihre Augen auf und sah Häuser und Bauernhöfe, die sie noch nie gesehen hatte. Ein mächtiger Berg, das Brienzer Rothorn, wie ihr Otti während der Alpfahrt erklärte, kam näher.

Eine unerwartet lange Reise

Weiter hinten im Tal, bei der Südelhöhe, zweigte das Gespann ab, die Strasse wand sich bergauf. Die Stute schwitzte und schnaufte schwer, Schosi Bodenmann wurde es Bang, als der Weg in den Wald ging. Alles schien ihr unbekannt, Mutter und Vater waren weit weg. Tränen rannen Schosi übers Gesicht. «Wenn Du aufhörst mit Weinen, schenke ich dir das Fohlen», versprach ihr Otti. Folgsam hörte Schosi daraufhin auf zu weinen.

Nach einer Stunde kam das Gasthaus Salwideli in Sicht, daran vorbei ging es weiter, der Weg wurde schmal und nach einer weiteren halben Stunde hielt Otto das Gespann vor einer einsamen Alphütte an. Neugierig kletterte Schosi vom Wagen. Eine junge Frau begrüsste Schosi, schloss das kleine Mädchen in die Arme mit den Worten: «Ich bin Sophie, eine Cousine deiner Mutter. Du, ich und mein Bruder Theodor bleiben den ganzen Sommer hier auf der Alp Unterlaubersmad.» Das Fuhrwerk wurde abgeladen, der Inhalt in der Alphütte versorgt.

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Ankunft auf der Laubersmad

Schosi Bodenmann betrat die Alphütte. Sie bestand aus einem Stall und einer abgetrennten Alpstube. In letzterer hing über einer Feuerstelle ein Kochkessel, in der Mitte gab es einen grob gezimmerten Tisch, dazu eine Bank und einige dreibeinige Hocker. In einer Ecke stand ein Bett, daneben hingen an Astgabel-Haken einige wenige Kleider. Aussen an der Hütte führte eine Treppe in einen Keller, der als Vorratskammer diente.

Nach der Besichtigung gab es erst mal zu essen. Sophie holte Wasser vom nahe vorbeifliessenden Bach, kochte eine Suppe und stellte dazu Brot, Speck und Käse auf. Hungrig assen alle davon. Nach dem Essen verabschiedete sich Otti und das Fuhrwerk kehrte samt dem Schosi versprochenen Fohlen ins Tal zurück.

Theodor holte die weidenden Rinder von der Weide, er und Sophie banden sie im Stall an. Schosi staunte über die vielen Guschti in einem Stall, so etwas hatte sie noch nie gesehen. Allmählich wurde sie sehr, sehr müde, gähnte und Sophie brachte sie ins Bett in der Ecke der Alphütte. «Schlaf gut, auch ich werde bald zu dir ins Bett kommen», versprach sie und schüttelte die schwere Decke.

Frische Ziegenmilch

DossierDossierSchicksalsgeschichtenDienstag, 5. April 2022 Schosi Bodenmann schlief nach der aufregenden Reise sehr lange und sehr gut. Sie erwachte spät am anderen Morgen. Sie zog sich an und ging nach draussen. Theodor und Sophie kamen gerade über die Weiden angelaufen. Sophie rannte zur kleinen Schosi, nahm die Kleine auf den Arm und sagte: «Guten Morgen, mein Schatz, hast Du gut geschlafen?» Schosi bejahte und fragte: «Wo hat denn Theodor geschlafen?» Theodor schlafe oben unter dem Dach im Heu, erklärte Sophie. Dann gab es Frühstück: Frische Milch von den beiden Geissen, Brot, Butter, Käse. Schosi ass hungrig und trank die frische, euterwarme Geissenmilch. «Auf der Alp Laubersmad konnte ich so viel essen, wie ich wollte und es schmeckte mir gut», erzählt Schosi über die Sommer, welche sie von 1938 bis 1943 auf der Alp verbrachte.

Im ersten Jahr hatte sie hie und da Heimweh nach ihrer Familie, aber Sophie tröstete sie, wenn ihr Tränen übers Gesicht liefen, mit Schokolade. Schosi gefiel es von Sommer zu Sommer besser auf der Alp. Wenn es im Frühling grün wurde, sehnte sich Schosi bereits nach der Alp, denn Sophie und Theodor verwöhnten ihre Grossnichte mit Leckereien und Süssmost – beides war neu für Schosi.

Heu- und Preiselbeeren

Schosi Bodenmann wurde in den Alltag auf der Alp eingebunden. Sie half Theodor und Sophie beim Ställe misten und Putzen und stieg mit ihnen täglich auf die Alp Oberlaubersmad, wo die grossen Rinder weideten. Auch dort gab es einen Stall, worin die Rinder bei Regenwetter die Nacht verbrachten. In der ersten Woche wanderte Sophie mit der kleinen Schosi in den Gasthof Salwideli, um Brot einzukaufen. Später besorgte die kleine Schosi dann allein diese Einkäufe. Im ersten Sommer zeigte Sophie ihr ebenfalls, an welchen Stellen die Heu- und Preiselbeeren wuchsen. Aus der Ernte zauberte Sophie anschliessend mit Zucker und Rahm feine Desserts. Ab da wanderte und kletterte Schosi jeden Sommer allein zu den Beerenplätzen. «Ich genoss die Freiheit auf der Alp und dass ich Sophies und Theodors Liebling war», erinnert sich die 90-Jährige.

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Eine Narbe als Souvenir

Nur einmal, im ersten Alpsommer, erlebte Schosi Bodenmann einen grossen Schrecken. Sie befand sich in der Abenddämmerung oberhalb der Alphütte und beobachtete, wie die Rinder im Galopp auf den Stall zustürmten. Sie fürchtete, von den Rindern zertrampelt zu werden und kletterte blitzschnell über den Zaun, um sich in Sicherheit zu bringen. Leider blieb sie mit ihrem Ärmchen am obersten Stacheldraht hängen, wobei ihr ein Stachel das Ärmchen aufschlitzte. Theodor eilte auf Schosis Geschrei herbei, löste sie vom Draht, verband die Wunde mit seinem Taschentuch und trug das kleine, schreiende Kind zu seiner Schwester. Sie beruhigte Schosi mit «Heile, heile Säge», reinigte die Wunde und klebte ein Pflaster auf die Wunde. «Die Wunde heilte gut, denn ich war schon damals zäh», erinnert sich Schosi heute, 84 Jahre später. Die Narbe sehe man jedoch noch heute sehr gut.

Von der Alp an den See

So ging für Schosi Bodenmann ein glücklicher Sommer nach dem anderen vorüber. Bei schönem Wetter wurde mit Hilfe aus dem Tal Heu und Streue geschnitten und eingebracht. Ende Sommer zog Schosi wieder zu ihren Eltern, denn der Unterricht in der Gesamtschule Steinibach rief. Sophie und Theodor blieben noch bis zum Alpabzug und darüber hinaus, um den Mist auszubringen und die Hütte winterfest zu machen. Später heiratete Sophie einen Käser in Entlebuch und Theodor kaufte die Liegenschaft Schönisei in Sörenberg. Schosi zog nach der Schule weg und verbrachte eine gute Zeit bei der Familie Scherer im luzernischen Meggen. Später heiratete sie Fritz Bodenmann, zusammen bewirtschafteten sie bis 1985 im aargauischen Mellingen einen Pachtbetrieb.

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