Am Morgen des 6. August 2021 fragte Monika* ihren Sohn, ob er wisse, wo sein Vater Thomas* sei. «In der Stube, da läuft der Fernseher», meinte dieser. Doch da war kein Vater. Böses erahnend, gingen die zwei auf die Suche. Und fanden schliesslich Thomas’ leblosen Körper in einem Schopf. Er hatte seinem Leben ein Ende gemacht.
Für die meisten seiner Freunde und Bekannten war der Suizid von Thomas gänzlich unverständlich. Er war ein 70-jähriger erfolgreicher Landwirt, der seinen stattlichen Hof an zwei Söhne übergeben hatte. Er hatte vier erfolgreiche Kinder und eine Schar Enkelkinder, die ihn über alles liebten. Er setzte sich ein in Vereinen und in der katholischen Kirche, war ein geselliger Mensch, den alle gern hatten. Wie konnte er sich das Leben nehmen?
Depression ernst nehmen
Thomas kämpfte mit Depressionen. Er glaubte zeitweise von sich, er sei ein totaler Versager. Seine Selbstqualen trieben ihn schliesslich in den Tod. «Depression ist eine schlimme Krankheit», sagt seine Witwe. «Wir sollten sie anerkennen und behandeln wie Krebs.» Beim Krebs machen wir Vorsorgeuntersuchungen, weil wir wissen, dass wir gute Heilungschancen haben, wenn die Krankheit früh diagnostiziert wird. Ähnlich wie beim Krebs wird die Krankheit Depression schlimmer, wenn sie nicht behandelt wird. Dann rutscht eine Menschenseele immer mehr in die Dunkelheit, dann wird es gefährlich.
Da die Themen Depression und Suizid mit Scham bekleidet sind, ist es nicht immer einfach, das Gespräch zu suchen. Weder für die Betroffenen noch für Personen um sie herum. «Das Gespräch sollte behutsam angegangen werden», sagt Monika aus ihrer Erfahrung. «Zum Beispiel sind Formulierungen wie ‹Wir sollten Hilfe beiziehen› besser als ‹Du solltest dir Hilfe suchen›. Das ‹Du› fühlt sich anklagend an.» Aber auch dann sei die Antwort oft «Mir fehlt doch nichts».
Es sei schwierig, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, weiss die Bäuerin. «Manchmal braucht es drei oder vier Anläufe.» Auch das richtige Medikament zu finden, ist nicht immer einfach. Was einem Menschen hilft, kann bei einem anderen den Zustand noch verschlimmern. Dazu kommt, dass es in der Regel mindestens zwei Wochen dauert, bis ein Medikament wirkt.
Nicht der Erste
Depression war kein Fremdwort in der Familie von Thomas. Schon zwei Personen in der weiteren Verwandtschaft hatten sich das Leben genommen. «Wo Depression in der Familiengeschichte vorkommt, sollte aufgehorcht werden», sagt Monika. Covid war sicher einer der Auslöser für die letzte depressive Phase von Thomas. Die Isolation auf dem Hof fand der gesellige Mann schwierig.
Schwerwiegender aber sei die für ihn nicht glücklich abgeschlossene Ablösung vom Hof gewesen, glaubt seine Witwe. «Die ältere Generation sollte frühzeitig einen Plan ausarbeiten für die Zeit nach der Hofübergabe und eine neue Aufgabe ausserhalb des Hofes finden», rät sie. «So mancher identifiziert sich sehr mit seiner Arbeit als Bauer. Fällt diese weg, kann es kritisch werden.»
Offen reden
Thomas hinterliess eine Familie, die mit seinem Freitod zurechtkommen muss. «Ich beschloss schon in der ersten Stunde, offen dazu zu stehen, dass es ein Suizid war», erzählt Monika. «Wir werden nichts unter den Teppich wischen.» Diese Offenheit half der Familie und dem Bekanntenkreis, über Thomas und seinen Tod zu sprechen. Das ist für die Verarbeitung sehr wichtig.
«Wir haben den Enkelkindern sofort gesagt, wie der Grossvater gestorben ist», führt Monika aus. «Kinder haben ein feines Gespür dafür, wenn ihnen nicht die Wahrheit gesagt wird.» Sie erzählt von einem Freund, der seinen Vater früh auf die gleiche Weise verloren hatte. Erst als Teenager erfuhr er aber die Wahrheit. «Das war für ihn katastrophal.»
Trauer und Wut
Die Angehörigen müssen mit vielen Emotionen kämpfen wie Verlust, Ohnmacht Trauer und Wut. «Wie konntest du das meinen Kindern antun!», war oft Monikas Schrei. Es war Erntezeit, als Thomas starb. Am Tag zuvor war die 15-jährige Enkelin auf dem Mähdrescher, Thomas auf dem Traktor. «So ein prächtiger Tag, was gibt es Schöneres, als miteinander als Familie zu ernten!», dachte der Sohn für sich, wie er später der Familie erzählte. Am Tag danach nahm sein Vater sich das Leben.
Eines möchte Monika Angehörigen von Familien, in denen ein Mitglied einen Suizid begangen hat, noch sagen: «Du bist nicht schuld. Du hättest nichts dagegen machen können.» Dieser Mensch war nicht schlecht, sondern krank. Und so sehr man sich das auch wünscht, nicht alle Krankheiten können rechtzeitig erfolgreich behandelt werden.
* Die Namen sind der Redaktion bekannt.