Frau Frei, auf welche Anzeichen für eine postpartale Depression können Angehörige, Hebammen oder Ärzte oder auch die Frau im Wochenbett selbst achten?
Die Anzeichen können sich im Körper, in den Gefühlen und im Denken zeigen. Häufig berichtete körperliche Symptome sind: Schlafstörungen, Erschöpfung, Angespanntheit, sich nicht entspannen können, innere Unruhe. Auf der Gefühlsebene: Überforderung in der neuen Rolle, Niedergeschlagenheit, Schuldgefühle, Ängste, Gefühlslosigkeit gegenüber dem Baby. In den Gedanken: Die Frau grübelt ständig darüber, ob sie eine genügend gute Mutter sei. Sie kann bedrohliche Gedanken haben, z.B. das schreiende Kind mit Gewalt zum Schweigen zu bringen.
Die Anzeichen auf Körperebene können betroffene Mütter am einfachsten berichten. Da solche oder ähnliche Beschwerden zum Wochenbett gehören können, ist es für Angehörige und Fachpersonen schwierig zu erkennen, dass es sich um eine postpartale Depression handeln könnte. Darum müssen Fachleute solche konkreten Symptome auf der Gefühls- und Gedankeneben aktiv ansprechen und erfragen. Die Anzeichen im Denken und Fühlen sind derart schambesetzt bei den betroffenen Müttern, dass sie es oftmals erst im Rahmen der Psychotherapie schaffen, erstmals über alle Symptome zu sprechen. Die Mütter müssen zuerst verstehen, dass diese Körpersymptome, Gedanken und Gefühle zu einer Krankheit gehören, die postpartale Depression heisst, für die sei keine Schuld tragen. 10 bis 15 Prozent der Mütter erkranken daran. Sie müssen aufgeklärt werden, dass diese Beschwerden mit Abklingen der Krankheit zurückgehen und die Liebe zum Baby spürbar wird. Damit es soweit kommen kann, ist es wichtig, dass sich die betroffene Mutter in professionelle Hilfe begibt. Dort soll auch der Vater/Partner mit einbezogen werden.
Sie betreuen auch Frauen aus der Landwirtschaft mit dieser Diagnose. Wie oft kommt die postpartale Depression in diesem beruflichen Umfeld vor?
Es ist mir nicht bekannt, dass Frauen aus der Landwirtschaft mehr oder weniger häufig von postpartalen Depressionen betroffen wären. Es ist anzunehmen, dass es andere Faktoren sind, welche eine postpartale Depression begünstigen oder eine Frau davor schützen. Für eine junge Familie aus der Landwirtschaft bestehen andere mögliche Schutz- und Risikofaktoren als z.B. bei einer Familie in der Stadt. Studien haben gezeigt, dass eine vorbestehende Depression der grösste Risikofaktor für die Entwicklung einer postpartalen Depression darstellt. Auch andere psychische Beschwerden vor und während der Schwangerschaft begünstigen eine postpartale Depression sowie mangelnde soziale/ partnerschaftliche Unterstützung. Ein lang unerfüllt gebliebener Kinderwunsch oder eine ungünstig bis lebensbedrohlich (für Mutter und oder Baby) verlaufene Geburt können die Entwicklung einer postpartalen Depression neben vielen anderen Faktoren ebenfalls begünstigen. Die Forschung hat gezeigt, und dies ist auch meine Erfahrung in der Praxis, dass sich eine postpartale Depression nur im Inhalt/Thematik von anderen Depressionen unterscheidet. Postpartal beschreibt, dass die Beschwerden innerhalb eines Jahres nach Entbindung auftreten.
Gibt es in der Landwirtschaft zusätzliche Risikofaktoren für eine postpartale Depression?
- Klare Strukturierung des Familienalltags durch Arbeitseinheiten des Vaters, wie z.B. Frühstück, Znüni- Kaffee-, Mittagspause, Zvieri zu Hause bei der Familie: Dies kann der Mutter helfen ihren Alltagsrhythmus und Struktur zu finden und sie hat regelmässigen Kontakt zum Partner. Diese fixen Zeiten und die damit in Zusammenhang stehenden Arbeiten (z.B. Zubereitung der Mahlzeiten) können jedoch neben der Betreuung des Babys, allfälligen älteren Kindern in der Zeit nach der Geburt zu einer Überlastung führen.
- Arbeit als Landwirt ist um 17.00 Uhr nicht beendet: Der Partner muss teilweise abends wieder in den Stall, die Mutter ist dadurch am Abend, wenn sie und das Baby müde sind, nochmals auf sich alleine gestellt.
- Häufig helfen die Partnerinnen auf dem Hof mit und sie fehlen nach der Entbindung als «Arbeitskraft». Dies führt zu einer Mehrbelastung des Partners und allenfalls zu Schuldgefühlen bei der jungen Mutter. Oder sie hilft bald möglichst wieder mit und hat dadurch kein richtiges Wochenbett. Es kann aber auch eine angenehme Abwechslung und Befriedigung sein, wenn sie das Baby in guten Händen weiss, auf dem Hof wieder Aufgaben zu übernehmen.
- Arbeitet der Mann auch ausser Haus (Nebenerwerb) wartet Zuhause viel Arbeit auf die frisch gebackene Mutter. Die Tiere sind tagsüber auf die Frau angewiesen (z.B. ausgebüxtes Tier, Tierarzt, Besamung, Kalbern, Abendfütterung). Eine Arbeitsaushilfe lohnt sich oft nicht, da der Arbeitsaufwand auf wenige Stunden am Morgen und Abend verteilt ist. Dies kann insbesondere zu einer körperlichen Überforderung/Erschöpfung führen.
- Häufig wohnen die Schwiegereltern auch auf dem Hof: Dies kann eine Entlastung sein, weil die betroffene Mutter nicht alleine ist und eine Kontaktperson in nächster Umgebung hat, welche auch zwischendurch «gaumen» kommt oder im Haushalt mithelfen kann. Sind aber unausgesprochene Konflikte/Wünsche da, kann dies für die betroffene Mutter und das Paar eine zusätzliche Belastung sein. Fragen wie: «darf ich meinen Schwiegereltern sagen, die bis vor drei Jahren in diesem Haus wohnten, dass sie nicht einfach in unser Haus eintreten dürfen ohne zu klingeln?» sind belastend. Der Partner sieht sich oft in einem Loyalitätskonflikt zwischen den eigenen Eltern und der Partnerin und eigenen Familie.
- Je nach Grösse des Betriebs und finanzieller Situation (Stellvertretung muss bezahlt werden zusätzlich zu den Ferienkosten und die Grosseltern sind allenfalls schon zu gebrechlich, um den Hof eine Woche zu führen) der Familie sind Ferien ausserhalb des Hofs kaum oder gar nicht möglich.
- Traditionelles Umfeld: kann für junge Familie und ihre Wünsche/Pläne erschwerend sein, weil die Stigmatisierung jenachdem auf dem Land grösser sein kann als in der der «anonymen» Stadt. Das könnte die Aufnahme von einer Psychotherapie erschweren. Hier braucht es gute Aufklärungsarbeit durch Fachpersonen. Die Verfügbarkeit von Therapieplätzen auf dem Land ist eingeschränkt, das kann erschwerend dazukommen, auch wenn der Entscheid gefallen ist, sich Hilfe zu holen. Je nachdem findet die Betroffene keinen Therapeuten oder muss einen langen und mühsamen Anreiseweg in Kauf nehmen, was die Inanspruchnahme von Hilfe erschwert oder verunmöglicht.
Wie sieht die Psychotherapie bei einer betroffenen Mutter aus?
In der Psychotherapie soll zuerst über die Krankheit aufgeklärt werden, sodass die Mutter versteht, dass alle erlebten Anzeichen kein Zeichen mangelnder Liebe zum Baby oder mangelnder Mutterkompetenzen, sondern Teil einer postpartalen Depression sind. Dies entlastet betroffene Mütter enorm. Sie muss erfahren, dass die Krankheit behandelbar ist.
Bei Schlafstörungen, grosser Erschöpfung oder innerer Unruhe und starkem Grübeln kann eine medikamentöse Behandlung (Antidepressivum) nötig werden. Hier muss darauf geachtet werden, dass nicht alle Medikamente mit dem Stillen vereinbar sind. Für die Verschreibung von Medikamenten braucht es einen Arzt, der pyschologische Psychotherapeut kann keine Medikamente verschreiben.
Der Vater/Partner soll unbedingt mit einbezogen werden, damit er versteht, unter welchen Symptomen seine Frau leidet und dass er ihre Gedanken und Gefühle einordnen kann. Zudem ist es wichtig gemeinsam mit dem Partner nach Entlastungsmöglichkeiten zu suchen. Väter und Partner sind oftmals stille Leidende. Auch sie sind durch die Krankheit der Mutter verunsichert und mehr belastet. Teilweise können Angehörige mit einbezogen oder eine Haushaltshilfe/Betreuungsdienste aufgegleist werden. Ziel ist es, dass sich die Mutter erholen kann und gleichzeitig weiterhin die Verantwortung fürs Baby innehat. Sie muss darum unbedingt mitentscheiden können, durch wen sie bei was entlastet wird.
Wie gestalten Sie die Therapiegespräche?
In den Gesprächen geht es um Themen wie «was für ein Mami möchte ich sein? Wo kann ich das Füfi gerade sein lassen», «Wie kann ich meine Bedürfnisse mitteilen», «wie halte ich es aus, dass mein Baby gleichzeitig wie ich ein Bedürfnis hat», «Darf ich als Mami ans Limit kommen?», «wie kann ich in Kontakt kommen/bleiben mit meinem Baby, auch wenn ich im Moment nicht glücklich bin und mich alles überfordert» … Eine Mutter, die nicht stillen kann, soll lernen, dass sie trotzdem unersetzlich ist fürs Baby und dass Mami-Sein noch viele weitere Aufgaben beinhaltet, welche für das Baby überlebenswichtig sind, als ausschliesslich das Stillen. Es ist mir ein Anliegen auch das Baby in die Behandlung mit einzubeziehen. So entsteht ein neues Erfahrungsumfeld für die Mutter mit ihrem Baby in einem geschützten Raum. Auch allfällige Geschwisterkinder sollen sicher einmal mit zum Gespräch kommen, damit ich als Therapeutin gemeinsam mit der Mutter über die spezielle Situation und die Krankheit in kindgerechter Sprache reden kann. Eine postpartale Depression betrifft wie alle anderen psychischen Erkrankungen die ganze Familie.
Neue App für Betroffene und Angehörige
Der Verein Postpartale Depression Schweiz beobachtet schon länger die stets steigende Nachfrage nach Online-Informationen zum Thema Postpartale Depression.
Monatlich wird die Seite www.postpartale-depression.ch rund 5000-mal von Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen besucht. Der Zugriff geschieht bei zwei Dritteln über ein mobiles Gerät, meist das Handy. Deshalb lancierte der Verein unlängst die erste deutschsprachige App, welche Betroffene in einer Krise nach der Geburt begleiten und als Wegweiser durch eine Postpartale Depression helfen soll.
Die kostenlose «PPD Krisen-App» wurde von ehemals betroffenen Frauen für akut Betroffene entwickelt und bietet folgende Funktionen:
● Der Selbsttest EPDS (Edinburgh Postnatal Depression Scale) kann regelmässig durchgeführt und die Resultate können auf dem Handy gespeichert werden.
Die App erstellt eine Grafik, die die persönliche Entwicklung in der Krise sichtbar macht.
● Die Tagebuchfunktion hilft, auch die guten Tage optisch erkennbar zu machen.
● Durch die Möglichkeit der Ergänzung der Menstruationstage können Stimmungsschwankungen und hormonelle Schwankungen verglichen werden.
● Medikamenten-Reminder, der einen Eintrag im Kalender erstellt.
● Alle Adressen von Fachpersonen, Mutter-Kind-Einrichtungen oder Selbsthilfegruppen sind integriert.
● Alle Kontaktmöglichkeiten zum Verein sind aufgeführt.
● Die App wird lokal auf dem Smartphone gespeichert. Es werden keine persönlichen Daten an Dritte weitergegeben.
Ab sofort ist die «PPD Krisen-App» im Google Play Store sowie App Store verfügbar, sie kann aber auch als PWA-App (Progressive Web App) heruntergeladen werden.
Was, wenn eine ambulante Behandlung nicht ausreicht?
Dann ist eine stationäre Behandlung in einer Mutter-Kind-Station angezeigt. Es ist wichtig, dass ein solcher von Mutter und Vater/Partner befürwortet werden. Auch hier braucht es viel Aufklärungsarbeit.
Ist die postpartale Depression aus Ihrer Sicht noch ein Tabuthema?
Leider ja. Für mich gibt es zwei Gründe. Einerseits müssten Fachleute (Gynäkologe, Hebamme, Hausarzt, Pflegefachpersonen in der Klinik) dieses Thema noch offener ansprechen und sich trauen, frischgebackene Mütter aktiv und konkret auf die schambesetzten Anzeichen anzusprechen. Für mich wäre es wünschenswert, dass werdende Mütter und Väter über das Risiko einer postpartalen Depression aufgeklärt würden. Sodass Mütter über die möglichen Anzeichen Bescheid wissen und möglichst früh erkennen können, dass sie nicht nur einen Babyblues haben.
Andererseits wünsche ich mir, dass betroffene Mütter und Väter offen über dieses schambesetzte Krankheitsbild sprechen würden. Ich beobachte, dass Betroffene sehr lange warten, bis sie überhaupt mit weiteren Angehörigen oder Freunden darüber sprechen. Nicht selten ist es so, dass die betroffenen Mütter selbst dem eigenen Partner gegenüber die wahren Gedanken und Gefühle nicht offenbaren (aus Angst vor Ablehnung und Verurteilung). Für sie wird dies oft erst im Rahmen einer Psychotherapie möglich. Betroffenen Mütter würden weniger leiden, wenn es kein Tabu mehr wäre, halten das Tabu jedoch aufrecht, weil es dermassen schambesetzt ist.
Was braucht es, um einer postpartalen Depression vorzubeugen?
Die Aufklärung vor oder während der Schwangerschaft habe ich bereits erwähnt. Ausserdem müssen Eltern das Bewusstsein entwickeln, dass Elternwerden neben allen wunderschönen Seiten auch Anteile hat, die einem an die Belastungsgrenze und darüber hinaus bringen können: Schlaflose Nächte, nicht zu wissen, wieso das Baby schreit und was ihm fehlt, weniger soziale Kontakte der Mutter, weil sie nicht mehr der gewohnten Arbeit nachgeht und, und, und. Die Eltern sollten genügend Schlaf und Erholungszeiten einplanen und den Fünfer auch mal gerade sein lassen und Zeit zu zweit einplanen, um in einem guten partnerschaftlichen Austausch zu sein.
Frau lic. phil. Daniela Frei ist Fachpsychologin für Psychotherapie FSP und arbeitet als selbständige psychologische Psychotherapeutin in Zofingen. Einer ihrer Schwerpunkte ist die Begleitung und Behandlung von Müttern mit postpartalen Depressionen.
Wenn Sie professionelle psychologische Hilfe suchen, dann finden Sie unter www.psychologie.ch im PsyFinder qualifizierte Psycholog(inn)en und Psychotherapeut(inn)en für Beratung und/oder Therapie.