Ein Patient ging zum Arzt und beklagte, dass Angst sein Leben beherrsche. «Sie raubt mir alle Freude», so der Patient. Der Arzt erzählte dem Patienten daraufhin eine Geschichte: «Hier in meiner Praxis lebt eine Maus, die an meinen Büchern knabbert. Mache ich zu viel Aufhebens darum, wird sie sich vor mir verstecken und ich werde nichts anderes mehr tun, als sie zu jagen. Stattdessen habe ich meine wertvollsten Bücher an einen sicheren Platz gestellt und ich erlaube ihr, an den anderen zu knabbern. Auf diese Weise bleibt sie eine einfache, kleine Maus und wird nicht zu einem Monster. Mein Rat lautet also: Richten Sie Ihre Angst auf einige wenige Dinge, dann bleibt Ihnen Mut für das, was wichtig ist.»
Die Angst vor Covid-19
Diese leicht modifizierte Geschichte stammt aus dem Buch «Der Wanderer» von Dichter und Philosoph Khalil Gibran. Das Buch habe ich in meiner Schulzeit gelesen, diese Geschichte aber nie vergessen und sie bei der Suche auch sofort wieder gefunden.
Angst ist ein schlechter Ratgeber. Sie lähmt und hält uns davon ab, Dinge zu tun, die uns wichtig erscheinen und Freude bereiten. Die Angst vor Covid-19 und den damit verbundenen Folgen lähmen uns. Die einen, weil sie Angst vor der Krankheit selbst haben, die anderen, weil sie die Folgen, welche die Krankheit in unserer Gesellschaft hinterlassen könnte, namentlich die wirtschaftlichen oder die politischen Folgen, fürchten.
Sensucht nach dem «normalen» Leben
Trotz all dieser Ängste, die sicher begründet sind, tut sich etwas ganz stark hervor. Wir alle haben genug von diesem Virus. Wir sehnen uns nach einem «normalen» Leben, einem gewöhnlichen Alltag ohne Angst vor Konsequenzen, die das Virus auf uns haben könnte. Wenn wir Khalil Gibrans Geschichte nun ernst nehmen und unsere Angst demnach auf einige wenige Dinge richten, dann sollte uns der Mut für das bleiben, was wirklich wichtig ist.
Aber was ist nun wichtig? Und ist diese Maus Covid-19 nicht schon lange zum Monster geworden? Diese Geschichte vom ärztlichen Rat, die mir damals so einleuchtete, als ich Angst hatte, eine Prüfung nicht zu bestehen, oder Angst hatte, jemanden zu verlieren, scheint uns in der Gegenwart nicht wirklich weiter zu helfen. Aber warum nur tut sie das nicht?
Wenn wir schon nicht mehr erkennen, was wirklich wichtig ist, finden wir dann heraus, was uns Freude bereitet? Für viele Menschen ist Singen und Tanzen ein Ausdruck von Freude. Wenn ich singe, geht es mir gut oder schlagartig besser. Tanzende Menschen stehen sinnbildlich für ein Fest, etwas Freudiges. In der Schweiz sind Jodelgesang und Volkstanz Kulturgut. Dabei wird die Tracht getragen, die sich innert Jahrzehnten nur in Details verändert hat und ihrer Linie stets treu geblieben ist. Auch die Lieder, die gesungen werden, erzählen meist von einem Stück Schweiz, einem Stück Heimat, einem Stück Tradition.
Die Volkskultur ist in Gefahr
Folklore ist ein kulturelles Erbe, das über Generationen hinweg weitergegeben wird und erhalten bleibt, ohne sich der Zeit komplett anpassen zu müssen. So tragen wir heute die Tracht, wie sie unsere Vorfahren vor 100 Jahren bereits trugen. Wir tragen sie wohl nur weniger, als sie das taten. Und Covid-19 könnte das noch verschlimmern. Dann nämlich, wenn keine Jodlerabende mehr stattfinden, wenn die Trachtengruppe keine Proben mehr hat und keine Anlässe mehr stattfinden, an denen Tracht getragen wird und die Menschen singen und tanzen. Und das wäre unweigerlich auch der Anfang vom Ende der Volkskultur.
Die bäuerliche Bevölkerung ist ein wichtiger Träger dieser Kultur. Nicht nur, weil sie Alpabzüge zelebrieren kann, sondern weil viel Bäuerinnen und Bauern aktive Sängerinnen und Sänger sind. Wir laufen jetzt Gefahr, dass einige Gruppen aufgelöst werden müssen, weil die Mitglieder die Tanz- und Singaktivität ganz aufgeben, weil keine Proben mehr stattfinden und keine Anlässe mehr durchgeführt werden können.
Mut zur Planung haben
Aus der Maus Covid-19 ist längst ein Monster geworden, das scheinbar alles bedroht, was uns wichtig ist. Auch die Freude ist bedroht. Und gerade jetzt, wo der November vor der Tür steht und uns allen mit Schwermütigkeit und dem verbreiteten Nebel auch ohne dieses Virus gerne aufs Gemüt schlägt, ist diese Aussicht wenig hoffnungsvoll.
Was wir jetzt tun können, ist, den Mut zu haben, zu planen. Sei es ein Konzert im Frühling, ein Grossanlass im Sommer oder auch nur eine erste Probe nach Weihnachten. Brauchtum hat Kriege überstanden, lassen wir nicht zu, dass ein Virus unsere Schweizer Kultur innert wenigen Monaten bodigt.