Anja Altermatt ist derzeit auf der Blattenalp ob Innertkirchen im Berner Oberländer Haslital. Wir publizieren ihren Leserbrief hier in voller Länge: 

Die Alpen-Idylle und die Alpen-Realität 

Wer kennt sie nicht – die malerisch-idyllischen Bilder von Schweizer Bergen und Alpen, auf denen friedlich Kühe, Ziegen und Schafe weiden. Zufrieden grasend oder wiederkäuend machen diese Tiere einen Grossteil des «Schweizbildes» von Touristen und Wanderern aus, sie zieren so manch romantische Postkarte. Dieses Bild wird getrübt durch… eigentlich nichts. Oder?

Wir Bauern, die unsere Tiere im Sommer auf die Alpen treiben, investieren so ziemlich alles an Zeit und Geld in unsere Tiere. Den Winter verbringen die Tiere im Stall, auf grossen Weiden oder in der Wanderherde. Egal wie, alles braucht sehr viel Zeit und Energie - und Herzblut. Ohne Herzblut ist nichts zu machen. Aus «Schöfeler-Sicht» kann ich sagen, es ist unglaublich zeitaufwändig. Sehr schön und bereichernd, aber zeitaufwändig.

Wir waren diesen Winter wochenlang von Mitte Dezember bis Mitte März gemeinsam unterwegs, als Wanderherde. Meine 300 Schafe, meine beiden Hunde und ich. Bei Wind und Wetter (und zum Glück auch bei recht viel Sonnenschein) waren wir draussen.

«Ich kenne jedes meiner Tiere»

Am Abend, wenn die Herde eingezäunt war, habe ich die trächtigen Tiere im Stall versorgt. Diese haben von April bis Mai «glämmlet» – auch eine sehr intensive Zeit, während der man beinahe ausschliesslich im Stall ist, schaut, dass alles gut geht, die Aue gut lammen kann und die Lämmli fit sind. Natürlich gibt es immer wieder Tiere, die Mühe haben und Hilfe brauchen oder Lämmer, die aus irgendwelchen Gründen die Schoppenflasche brauchen. Auch das Schöppele ist intensiv – mindestens 3, besser 4 Mal pro Tag sollten die Lämmer einen Schoppen bekommen.

Dann werden alle ausgewachsenen Tiere geschoren, entwurmt, die Klauen werden geschnitten, … So haben wir jedes Tier xMal in den Händen. Ich kenne jedes meiner Tiere, weiss, wer Zwillinge oder Drillinge geboren hat, welches Mutterschaf bei der Geburt Mühe hatte, welchem Lamm ich eigenhändig auf die Welt helfen musste.

Dann ist da die Vorfreude auf die Alp. Das Vorbereiten, Einkaufen, Alp bereit machen, Tiere bereit machen, usw. Ich bringe meine Tiere seit 12 Jahren auf diese Alp. Ich habe nur gute Erfahrungen gemacht mit und auf dieser Alp und weiss, dass meine Tiere gesund und wohlgenährt im Herbst wieder heim kommen. Die Alpsaison ist ein Highlight. Eigentlich.

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Risse auf der Nachbaralp

Wir haben Ende Mai alles bereit gehabt. Viele Helfer haben uns geholfen alles vorzubereiten, zu zäunen, zu roden, usw. Am 3. Juni haben wir die Ziegen auf die Alp gebracht, am 4. Juni die Kühe und am 11. Juni hätten die Schafe hoch gehen sollen. 240 Tiere. Aber – auf der Nachbaralp hat der Wolf Schafe gerissen, 7 Stück. Da war die Angst natürlich gross, dass er weiter reisst, respektive auch zu uns auf die Alp kommt. Es blieb nur die Hoffnung, dass er auf der Durchreise ist und weiterzieht. Also blieben die Schafe erst mal noch zu hause.

Der Wolf blieb unter Beobachtung. Er hat tatsächlich weitere Tiere gerissen und wurde vor etwa 6 Wochen zum Abschuss frei gegeben. Er wurde jedoch nicht erwischt, aber ein paar Tage später gab es in Brienz Risse. So nahmen wir an und hofften, dass er eben doch weitergezogen ist.

Am 20. Juni dann durften auch meine Tiere endlich auf die Alp. Die Vorfreude war gross, auch der Stolz auf meine schönen, gesunden Tiere, die nun den Sommer geniessen und ihre Lämmer «in Freiheit» grossziehen dürfen. Natürlichere Aufzucht geht nicht.

Sie waren noch bis am Mittwoch, 6.7.2022 im unteren Teil der Alp eingezäunt, damit auch dieser sauber abgeweidet wird und wurden dann auf die Alp entlassen. Idylle und Freiheit pur, ganz so, wie es sein sollte…

«Gibt es denn hier Wölfe?»

Am Dienstag, 12.7.2022, kamen Wanderer zur Alphütte und haben uns erzählt, sie hätten ein totes Schaf und ein verletztes Lamm gesehen. Beide wohl abgestürzt. Auf meine Frage, ob es nicht ein Wolfsriss sein könnte, waren sie ganz erstaunt. Ob es denn hier Wölfe gäbe? Wohlgemerkt – die beiden wohnen in Meiringen, einer Nachbarsgemeinde, ein Katzensprung von der Alp entfernt.

Wir organisierten den Helikopter, damit wir das tote Tier vom Berg runterbringen und das verletzte Lamm finden und verarzten können. Ein befreundeter Jäger und Schafbauer hat uns begleitet.

Was soll ich sagen? Das angeblich abgestürzte Schaf ist nicht abgestürzt. Es wurde vom Wolf gejagt und getötet. Es sah ziemlich grausig aus. Aber es war nicht allein und es war nicht das am übelsten Zugerichtete… Wir haben noch zwei weitere Auen gefunden. Alle stramm und stark und eigentlich gesund. Alle mit prallem Euter, da sie ja ihre Lämmer hätten grossziehen sollen. Nur eine der drei wurde – laut Jäger, der die Schafe im Tal dann genau untersucht hat – sofort durch einen Kehlbiss totgebissen. Die beiden anderen wurden bei lebendigem Leib gefressen und erlagen irgendwann ihren Verletzungen. Fotos liegen dem Brief bei und bedürfen keiner weiteren Erklärung. Wie gesagt – ich kenne alle meine Schafe und habe viel Zeit mit ihnen verbracht. Alle drei Auen hatten Zwillinge... Blieb noch das Lamm. Während der Heli die drei Auen ins Tal geflogen hat, hat der Jäger das Lamm gefunden. Schwer verletzt, aber lebendig. Die schweren Verletzungen verunmöglichten aber eine Behandlung, so dass es auf der Stelle erlöst werden musste. Also 4 tote Schafe. Idyllische Alpenwelt… Wir haben per Heli nach weiteren toten oder verletzten Tieren gesucht, aber keine mehr gefunden. Vermeintlich…

Heute dann die Nachricht: es sind zwei weitere gefunden worden, beide tot (die Wanderer, die die beiden Schafe gefunden hatten, haben erzählt, die Schafe seien verhungert in den Felsen… So viel Unwissen, so viel falsches Wissen, obwohl der Wolf (eigentlich) doch recht präsent ist in den Medien…) Und eines, ein Lamm und noch lebendig, so unglücklich in die Felsen geflüchtet, dass der Jäger sich zu ihm abseilen musste, um es frei zu bekommen.

An die Evakuierungs-Flüge wird nichts gezahlt

Und als wäre das nicht genug, haben wir auch noch erfahren, dass an diese Rettungs- respektive Kadaver-Evakuierungsflüge nichts bezahlt wird und ich die selber berappen muss. Aber vom Berg runter bringen muss ich sie. Zum einen, weil ich meine Tiere aus ethischen Gründen nicht auf der Alp verwesen lassen will, zum anderen aber auch, weil ich sonst eine Strafanzeige wegen Gewässerverschmutzung am Hals habe…

Wie kann denn das sein?

Wie kann es sein, dass zwar das idyllische Bild gewahrt werden und Touristen und Wanderer in die Berge locken soll, aber der Wolf partout nicht geschossen wird?

Wieso soll das Leben dieses Wolfes mehr Wert haben als das unserer Schafe? Wieso müssen unsere Tiere derart leiden, der Wolf aber bleibt unversehrt? Wie kann es sein, dass kaum ein Aufschrei ertönt, wenn der Wolf in einen Blutrausch kommt, unsere Tiere jagt, ihnen bei lebendigem Leib Stücke aus dem Körper reisst und sie dann liegen lässt, um einem anderen Tier dasselbe anzutun? Denn es ist nicht der Hunger, den der Wolf antreibt, es ist einzig der Blutrausch.

Wie soll ich das weiterhin finanzieren? Heli-Flüge kosten ein Vermögen. Die toten Tiere dürfen nicht auf dem Berg liegen bleiben. Wie kann es sein, dass ich das alles selber finanzieren soll?

Warum kein Mitgefühl für gerissene Schafe?

Wie kann es sein, dass der Wolf, der auf der Nachbar-Alp mindestens 24 Schafe gerissen hat und deshalb zum Abschuss frei gegeben wurde, auf meiner Alp, die er in einem vielleicht fünfzehnminütigen Spaziergang erreichen kann, nicht geschossen werden darf, weil er sich in einem anderen Perimeter befindet und  «erst» 6 und noch nicht 10 Tiere getötet hat? Wie kann es sein, dass ich jetzt warten muss, bis er mindestens 4 weitere meiner Tiere getötet hat, bis (vielleicht) etwas unternommen wird?

Wie kann es sein, dass die beiden Mutterkühe, die in den letzten Tagen gerissen wurden, (schlimm, kein Thema, und mein Mitgefühl den betroffenen Bauern!) grosses Entsetzen in der Bevölkerung auslösen, in den Medien geschrieben wird, nun sei eine Grenze überschritten, über unsere gerissenen Schafe aber kein Wort verloren geht? 6 Schafe entsprechen einer Grossvieheinheit, sprich: 6 Schafe = 1 Kuh. Bei mir wurden 6 Schafe gerissen. 6faches Leid. Auf der Nachbaralp sicher 24 Schafe. 24faches Leid. Ich würde mir wünschen, dass auch dies auf so grosses Interesse stösst.

Wie kann es sein, dass wir Bauern nur hingehalten und vertröstet und – seien wir ehrlich – einfach auch für blöd verkauft werden?

Ich habe am Anfang dieses Briefes vom Zeitaufwand berichtet, vom Herzblut, dass wir Bauern in unseren Beruf stecken, von der Energie, die alles braucht. Das alles machen wir gerne und aus Leidenschaft. Aber die Energie, die ich hier verbrauche, die Bilder, die ich sehe, die Energie, die meine Freunde und Kollegen, die Jäger, die Wildhüter, die Flughelfer und Heli-Piloten verbrauchen und die Bilder, die sie sich ansehen müssen, wenn sie tote oder schwerstverletzte Tiere stundenlang suchen und dann bergen müssen… Denkt man als Wolfsbefürworter und –Schützer auch drüber nach?

«Ich bin riesig enttäuscht»

Ich kann tatsächlich nichts unternehmen, um dem Wolf Einhalt zu gebieten. Und nein, diese Alp ist nicht einzäunbar. Sie gilt als «nicht zumutbar schützbar».  Und nein, der Wolf war nicht zuerst da, dieses Argument kann nach 100 Jahren so einfach nicht mehr ernst genommen werden. Vor 100 Jahren war alles anders, auch die Dichte der Bevölkerung. (Über die Konsequenzen, wenn wir Bauern unsere Tiere nicht mehr auf die Alp geben können, weil die Gefahr für sie einfach zu gross ist, wird und wurde schon viel geschrieben.)

Ich bin riesig enttäuscht. Resigniert habe ich nicht – mein Beruf ist meine Berufung und ich will weiter machen. Aber ich werde dem Wolf meine Tiere nicht auf dem Präsentierteller servieren.

Was ich mit diesem Brief bezwecken will? Ich möchte den einen oder die andere zum Nachdenken anregen. Wölfe sind wunderschöne und sehr intelligente Tiere, kein Zweifel. Aber unter solchen Umständen, unter solchen Qualen ist ein Zusammenleben schlicht nicht möglich. Und eben – das Leben des Wolfes hat nicht mehr wert als das meiner Schafe. Und meine Schafe haben die Qualen, die sie durch ihn erleiden müssen, nicht verdient.

Anja Altermatt und Christian Hürbi, Himmelried (Kanton Solothurn) mit befreundeten Schafbauern aus der Region Haslital