Ich (42) bin noch verheiratet und habe drei Kinder. Meine Frau ist mit den Kindern vor zwei Wochen ausgezogen. Eigentlich weiss ich nicht, weshalb sie ausgezogen ist. Sie sagt, wir hätten halt nie gestritten und wir hätten uns deshalb auseinandergelebt. Streiten ist doch nicht gut. Ich verstehe nicht, weshalb streiten für die Beziehung besser gewesen wäre. Oder was meinen Sie?
Cornel Rimle: Tut mir leid, aber ich muss Ihrer Frau bezüglich «Streiten» recht geben. Ohne Streiten lebt man sich tatsächlich auseinander. Aber selbstverständlich erkläre ich es Ihnen noch etwas genauer.
Wir haben nie streiten gelernt
Schon von klein auf lernen wir: «hört auf zu streiten». Das Wort Streit ist in unserem Sprachgebrauch negativ besetzt – leider. Doch wir sollten viel öfter über unterschiedliche Wahrnehmungen und Ansichten streiten. Denn es ist ganz normal, dass wir die Dinge im Leben verschieden anschauen. Und wenn wir nicht darüber reden, entstehen Missverständnisse und einseitige Interpretationen.
Ein weiteres Hindernis für die Lust auf Streiten ist die Harmonieliebe. Wenn wir beispielsweise in einer Paarbeziehung nach der Zeit der Verliebtheit realisieren, dass wir doch nicht in allen Themen die gleichen Ansichten haben, dann sollten wir eine Gesprächskultur entwickeln, um über diese Unterschiede zu reden.
Konstruktive Streitkultur
Wir wollen aber die Harmonie der Verliebtheit nicht zerstören, deshalb verpassen viele Menschen an dieser Stelle das Erlernen einer konstruktiven Streitkultur. Wenn sie aber nicht über diese Unterschiede reden lernen, dann kommen Kränkungen und Verletzungen in die Beziehung – anfangs nur unmerklich und dann immer stärker.
Genau deshalb ist es so wichtig, den Unterschied zwischen einem guten Streitgespräch und einem destruktiven Konflikt zu kennen. In einem Streitgespräch hören die Menschen einander zu, sie wollen die Argumente der anderen Person verstehen. Es fallen keine Vorwürfe, der andere wird nicht abgewertet und gekränkt. Die Wortwahl ist respektvoll und beide sind bemüht, die Sichtweise des andern zu verstehen. Das gibt eine gute Grundlage für ein zielführendes Gespräch über den Umgang mit unterschiedlichen Ansichten.
Im Konflikt geht es um Recht haben wollen
Anders ist es beim Konflikt (den die Eltern und Lehrer vermutlich meinten, als sie uns sagten, wir sollen nicht streiten). Im Konflikt hören die Menschen einander nicht richtig zu. Es geht darum, wer Recht hat und nicht darum, einander zu verstehen. Kränkungen, Vorwürfe und Abwertungen sind Teil der Konfliktgespräche. Sie führen nicht zu guten Lösungen und vor allem nicht dazu, dass sich Menschen verstanden fühlen.
Sie sehen, streiten ist wichtig. Wenn wir nicht lernen, gute Gespräche über unterschiedliche Sichtweisen zu führen, öffnen wir den Weg zu Missverständnissen und falschen Interpretationen. Später heisst es dann eben, «Wir haben uns auseinandergelebt. Wir sind zu unterschiedlich.» Ich bin da anderer Meinung: Nicht die unterschiedlichen Ansichten führen zur Trennung, sondern dass man nicht gelernt hat, darüber zu streiten. Wenn wir lernen, gute Streitgespräche zu führen, entsteht oft sogar eine tiefe Verbundenheit und eine reife Liebe.
Kurzantwort
Wir sollten mehr und schon früh in der Beziehung lernen konstruktiv über unterschiedliche Ansichten zu streiten. Wenn wir dies nicht tun, entstehen Missverständnisse und falsche Interpretationen. Gute Streitgespräche, in denen wir einander zuhören und zu verstehen versuchen, führt zu einer guten Paarbeziehung in der man sich geliebt und verbunden fühlt.
Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät – sprechen Sie Ihre Frau einmal in diesem Sinne darauf an.
Cornel Rimle
Der Landwirt und Agronom FH übergab 2020 seinen Hof an Sohn und Schwiegertochter. Nach verschiedenen Weiterbildungen bietet er in eigener Praxis Coaching, Paarberatung und Mediationen an.In dieser Rubrik beantwortet er in loser Folge Fragen aus seinem Beratungsalltag.
Weitere Informationen: www.cornelrimle.ch