Die Appenzeller waren sich in ihrer Geschichte selten einig. So kam es auch 1597 zur Teilung des Kantons Appenzell in den katholisch orientierten Innerrhoden und den reformiert denkenden Ausserrhoden. Aber in einem schien man im Appenzellerland über lange Zeit gleich gesinnt: Nämlich darin, dass es das Frauenstimmrecht nicht braucht. Von dessen Einführung in den anderen Landesteilen blieb das Bergvölkli, das sogar eine eigene Hunderasse besitzt, weitgehend unbeeindruckt.
Schwer vorstellbar
1989 dann die Wende: Im Kanton Appenzell Ausserrhoden wird das Frauenstimmrecht an der traditionellen Landsgemeinde angenommen. Konservativer bleibt der katholische Halbkanton, die Innerrhödler lehnen das Frauenstimmrecht mehrfach ab. Doch schon ein Jahr später wird dieses auf dem Rechtsweg eingeführt.
«Zuerst haben die Männer sich das gar nicht vorstellen können», erinnert sich Renata Forrer aus Trogen. Die pensionierte Bäuerin war beim Umsetzen des Frauenstimmrechts im Kanton Appenzell Ausserrhoden 34 Jahre alt. Sie erinnert sich gut an die Ängste der Männer; wenn die Frauen befehlen würden, dann seien sie nichts mehr. «Sie kannten auch nichts anderes», fasst sie die Skepsis von damals zusammen. «Es wurde knapp angenommen, aber eben angenommen. Das galt es zu akzeptieren», sagt Forrer und ergänzt: «Es hat sicher immer noch Männer, die denken, dass damals ein falscher Entscheid gefällt wurde, aber öffentlich äussern täten sie das nicht.»
Vier Söhne, viel Arbeit
Renata Forrer hat nicht an vorderster Front für die Gleichberechtigung gekämpft. «Ich hatte auch nicht Zeit, mich darum zu kümmern», erinnert sie sich. Die Mutter von vier Söhnen (Werner 1979, Thomas 1980, Jakob 1982 und Walter 1984) hat mit ihrem Mann Otto in Trogen einen Landwirtschaftbetrieb geführt. Da war viel Arbeit, kaum Zeit für Freizeit und auch nicht, um auswärts einer Beschäftigung nachtzugehen. Irgendwann dann einmal wagte sie den Schritt trotzdem und verdiente beim Servieren oder Putzen ein paar Franken für die Familie. Es sei ein bescheidenes Leben gewesen, aber ein schönes. Die Arbeit hat das Paar verbunden. Die Bäuerin erinnert sich, dass ihr bereits 2010 verstorbener Mann Otto stets schmunzelnd zu sagen pflegte: «Zum Scheiden habe ich kein Geld, vorher kaufe ich ein Hemetli.»
Die Frauen sind viel selbstständiger geworden, beobachtet Renata Forrer. Das gebe ihnen auch die Gelegenheit, zu gehen, wenn es für sie nicht mehr stimmt. Nicht wertend meint sie: «Früher hat eine Frau einfach durchgebissen. Sie wusste, dass sie auf den Mann angewiesen war. Es gab nichts anderes.» Ob das falsch oder richtig war, will sie nicht beurteilen. Es sei einfach so gewesen. Heute könne man sich das als junge Frau bestimmt nicht mehr vorstellen.
Interesse ist gewachsen
Für Renata Forrer hat damals nicht gefehlt, dass sie nicht stimmen gehen konnte. Sie hat dann mit Einführung der brieflichen Stimmabgabe am demokratischen System der Schweiz teilgenommen. Es begann sie auch mehr zu interessieren. Während ihr Mann Otto im Gemeinderat tätig war, war ihr Schwiegervater noch Kantonsrat. «Damals hatten die Bauern in diesen Gremien noch eine grosse Bedeutung», erinnert sie sich. Sie hätten auch das bodenständige Gewicht in diese Gremien getragen. Ihrem Sohn Werner, der den Betrieb im Thrüen übernommen hat, fehle eindeutig die Zeit dazu. Durch den frühen Tod seines Vaters musste Werner bereits in jungen Jahren auf den väterlichen Erfahrungsschatz verzichten. Er sei voll ausgelastet mit dem Biobetrieb mit Milchproduktion und Weidemast als Standbeine und erfahre dabei viel Unterstützung durch seine Frau Gabriela. Natürlich geht auch Grossmutter Renata helfen, die heute im Dorf wohnt, mit Vorliebe hüte sie die Enkel, erzählt sie fröhlich.
Die Büroarbeiten für die Bauernfamilien hätten einen Quantensprung gemacht, erklärt Renata Forrer mit Blick in die Vergangenheit. Der Aufwand sei nicht mehr zu vergleichen mit jenen Arbeiten, die sie oder auch die Generation davor hatten erledigen müssen. «Da muss man fast jemanden anstellen, wenn man das alles bewältigen will», sagt die Bäuerin, die diesen Umstand sehr bedauert. «Es wäre gut, wenn die Bauern vermehrt für die Politik im Kanton oder auf der Gemeindeebene gewonnen werden könnten», sagt sie. Das sei schliesslich die Lebensgrundlage aller.
Danach die Narrengemeinde
Das Einführen des Frauenstimmrechts hatte auch auf die traditionelle Landgemeinde Konsequenzen (siehe Kasten). «Otto ging nicht mehr hin», erinnert sich Renata Forrer. «Die hönd alls mitgno. Gofä, Hönd, efacht alls», erklärt die Bäuerin in ihrer Muttersprache. Das habe ihrem Mann nicht gefallen. Wenn die Frauen auch ein Mitspracherecht gewonnen hätten, die Männer hätten durch diese Veränderung etwas Entscheidendes verloren. «Es war ihre Zeit, die sie ohne Frauen verbrachten und dabei ihre Gespräche führten», so Forrer. Am Montag nach der Landsgemeinde war Narrengemeinde, wie sie genannt wurde. «Dann diskutierten sie, was gut ist und was nicht. Was sie richtig und was falsch entschieden hatten. Zuerst hatten sie Feuerwehr, dann ging es in die Wirtschaft zur angereicherten Diskussion. Der gemütliche Teil gehörte eben auch dazu», so die Bäuerin.
Die Schweizer Landsgemeinden: Vorläufer der heutigen Demokratie
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Landsgemeinde Trogen, 1814: Die Bürgerversammlung war schon damals ein Grossanlass.(Bild zVg Kantonsbibliothek AI)
Als «Landsgemeinde» bezeichnet man in der Schweiz eine verfassungsmässige Versammlung aller Stimmberechtigten. An einer Landsgemeinde werden wichtige Wahlen abgehalten und Sachgeschäfte beraten und beschlossen. Die Landsgemeinden gelten als eine frühe Form der direkten Demokratie.
Eine alte Tradition
Die Anfänge der Schweizer Landsgemeinden reichen bis ins Hochmittelalter zurück. Die ersten derartigen Versammlungen fanden Ende des 13. Jahrhunderts in den Zentralschweizer Urkantonen Uri, Schwyz und Unterwalden und nur wenig später auch in Appenzell statt. Mit dem schrittweisen Wachstum der Alten Eidgenossenschaft verbreitete sich auch das Modell der Landsgemeinde als höchster politischer Instanz über das Gebiet der heutigen Schweiz. Landsgemeinden oder vergleichbare Bürgerversammlungen kannte man in allen Landesteilen. Diese Treffen wurden regelmässig an einem bestimmten Tag unter freiem Himmel und mit feierlichem Zeremoniell abgehalten.
An den Versammlungen traf sich aber keineswegs das gesamte Volk. Meist konnten nur die Reichen und Mächtigen, die «etwas zu sagen» hatten, an den politischen Prozessen teilhaben und Einfluss nehmen.
Ein Stück Geschichte
Mit der Etablierung des Schweizer Bundesstaats im 19. Jahrhundert veränderte sich die politische Landschaft der Schweiz. Die Landsgemeinden wurden vielerorts abgeschafft und Bund und Kantone übernahmen ihre Kompetenzen.
Heute werden Landsgemeinden nur noch in den Kantonen Appenzell Innerrhoden und Glarus abgehalten, wo die Versammlungen verschiedene Beamte und Regierungsvertreter wählen. Seit der Einführung des Frauenstimmrechts sind auch in Appenzell Frauen teilnahme- und stimmberechtigt.
Corona ist ein Problem
Nachdem die Landsgemeinde schon 2020 wegen der Corona-Pandemie nicht stattfinden konnte und an ihrer Stelle eine Urnenabstimmung durchgeführt werden musste, droht dasselbe Schicksal nun auch der diesjährigen Durchführung. Roland Inauen, der amtierende Landammann des Kantons Appenzell Innerrhoden, bestätigt gegenüber der BauernZeitung, dass der Grosse Rat des Kantons am Montag über einen entsprechenden Beschluss der Standeskommission informiert worden sei. Die epidemiologische Lage verunmögliche leider die Durchführung eines Anlasses, zu dem 3000 bis 4000 Menschen gleichzeitig an- und wieder abreisen müssten. Der definitive Entscheid darüber, ob die Landsgemeinde sowie die einzelnen Bezirksgemeinden heuer stattfinden könnten, stehe aber noch aus, hält Inauen fest. Noch laufe die Vernehmlassung in den einzelnen Bezirken. Falls die Anlässe abgesagt werden müssten, würden die Abstimmungen wie im vergangenen Jahr an der Urne abgehalten.