«Si huele a caña, tabaco y brea, usted está en Cali, ay mire, vea!» (Wenn es nach Zuckerrohr riecht, Tabak und Teer, bist du in Cali, oh schau, sieh!). Die ersten Textzeilen eines Lieds der bekannten, kolumbianischen Salsaband Orquesta Guayacán haben mich in eine Expedition in die weiten Zuckerrohrfelder getrieben.
Es ist ein heisser Mittwoch, die gleissende Sonne steht über mir. Meine Augen wandern in die Höhe. Ich sehe eine wüchsige Pflanze mit garstigen Blättern. Ein Gras, dessen Süsse die kolumbianischen Geschmacksknospen betört und entschlossen den wirtschaftlichen Motor des Departements Valle del Cauca anfeuert.
Stängel, die hier alle stolz machen
«Cali es caña de azúcar» – Cali ist Zuckerrohr. Das ist ein lapidarer Satz, der es aber direkt auf den Punkt bringt. Die Gegend ist keinesfalls nur das Hauptanbaugebiet für Zuckerrohr in Kolumbien. Die Region Valle del Cauca reitet auf den Wellen des Zuckersafts, der hier aus dem schlichten Rohr gepresst wird. Zuckerrohr bedeutet hier Beschäftigung, gut unterhaltene Strassen und kulturelle Identifikation mit der Gegend. Die Region schmeckt zuckrig, und darauf sind die Leute stolz. Am augenscheinlichsten widerspiegelt sich die «cultura de caña» in der hiesigen Kulinarik, die sich keineswegs vor Süssem scheut. Für viele traditionelle Speisen wird hier «Panela», Rohrrohrzucker, anstelle des raffinierten Zuckers verwendet.
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Durch die schonende Herstellungsweise weist der eingedampfte Zuckerrohrsaft eine grosse Palette an Nährstoffen auf und verführt mit sanften Karamell- und Honignoten. So gehört hier zu jedem Mittagessen die «Aguapanela» mit einem Spritzer Limonensaft. Auch Champús zählt zu den typischen Getränken. Es basiert auf fermentiertem Mais, verschiedenen Früchten wie Ananas und Lulo und eben «Panela». Nicht zu vergessen sind die verschiedenen Desserts wie die karamellisierte Milchcreme «Manjar blanco» (weisse Delikatesse) oder die aus den Küstengebieten stammenden «Cocadas» aus Panela und Kokosraspeln.
Die Zuckermaschine
Es ist kein Zufall, dass Zuckerrohr neben Kaffee, Blumen, Bananen und Palmöl eines der meistexportierten Agrarprodukte Kolumbiens ist. Der Zuckerrohranbau sei ein gutes Geschäft im Valle del Cauca, sagt ein Agronom und Berater in der Region, der mich auf meiner heutigen Erkundungstour begleitet.
Die klimatischen Bedingungen und die fruchtbaren Böden im Valle del Cauca sind ausgezeichnet für ein ganzjähriges Wachstum des Wärme liebenden Zuckerrohrs. Weiter sorgen Investitionen in Anbautechniken im internationalen Vergleich für rekordmässige Erntemengen, im Durchschnitt 120 Tonnen pro Hektare und Jahr, wobei in einigen Fällen sogar Rekorde von bis zu 200 t pro ha und Jahr erreicht werden. Der Zyklus des Zuckerrohrs erstreckt sich über zwölf durchgetaktete Monate. Um die höchstmögliche Produktivität und Zuckerkonzentration zum Zeitpunkt des Schnittes zu gewährleisten, wird nach der Pflanzung der Stecklinge gespritzt, gedüngt, bewässert und mit der Applikation von wachstumsstoppenden Mitteln die Ernte programmiert.
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Zucker kann einen bitteren Beigeschmack haben
Der heutige Ernteprozess erfolgt grösstenteils maschinell. In Regenzeiten kommt aber weiterhin der «Cortero» zum Einsatz. Im Dienste des Zuckers muss er sich mühsam mit seiner Machete durch die starren Rohre schlagen und kann kaum den rasiermesserscharfen Blättern entrinnen. Eine zähe Arbeit, die in der Kolonialzeit den transatlantischen Sklavenhandel ankurbelte. Eine zähe Arbeit, die in der Kolonialzeit den transatlantischen Sklavenhandel ankurbelte. Während in den kolumbianischen Zuckerrohrplantagen unter miserablen Umständen in Zwangsarbeit für die süssen Kristalle geschuftet wurde, gelangte das begehrte Gut nach Europa und versüsste die Wirtschaft der Kolonialmächte.
Im Lauf der Zeit hat sich zur Vereinfachung der Arbeit der «Corteros» das Abbrennen der widrigen Blätter etabliert. Durch die schiere Menge an Zuckerrohr im Valle del Cauca konnte es durchaus vorkommen, dass sich schwarze Rauchschwaden auftürmten, durch die Ortschaften schwebten und mit der aus der Luft rieselnden Asche einen dunklen Schatten hinterliessen.
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Die zunehmende Mechanisierung hat zum Rückgang dieser Verbrennungspraktik beigetragen. Ausserdem wurde sie durch ein Abkommen zwischen den Umweltbehörden und der Zuckerrohrvereinigung auf gewisse Zonen und Zeiten beschränkt. Trotzdem sind in der Nacht auf den Feldern gelegentlich illegale, kontrollierte Verbrennungen zu sehen.
Fortlaufend an neuen Sorten geforscht
Gleichermassen schematisch wie der Anbau abläuft, funktioniert auch die Organisation des Zuckergeschäfts. Wie mir mitgeteilt wird, sind die Körperschaften eng verzahnt und die Zusammenarbeit eingespielt.
Der Austausch zwischen Forschung und Produktion ist stark, insbesondere wenn es um die Entwicklung neuer Sorten geht. Bei einer Monokultur wie dem Zuckerrohr ist das auch dringend nötig, um die Resistenzbildung von Krankheitserregern in Schach zu halten. Jedes Jahr kommen neue Zuckerrohrsorten auf den Markt, die krankheitsresistent und auf die lokalen Bodengegebenheiten abgestimmt sind.
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Am «Centro de Investigación de la Caña de Azúcar de Colombia», an Kolumbiens nationalem Zuckerrohr-Forschungszentrum, wird zur nachhaltigen Zuckerrohrproduktion geforscht. Zum Beispiel zur biologischen Kontrolle von Schädlingen mittels Parasitoiden. Auch betreiben einige Zuckerrohrmühlen teilweise biologischen Zuckerrohranbau. Dort wird die Anwendung organischer Düngemittel auf Kompostbasis sowie eine Unkrautbekämpfung ohne chemische Herbizide angestrebt. In wenigen Fällen werden auch Mischkulturen mit der Augenbohne, einer Leguminose, ausprobiert. . Letzteres aber macht noch fast niemand, «casi nadie lo hace».
Ein Land fast aus Zucker und seine Altlasten
Fast alle Betriebe im Valle del Cauca verkaufen Biomasse an die Zuckerrohrmühlen zur industriellen Raffination. Nebst dem Zucker springen dabei weitere Produkte heraus, denn die Zuckerrohrpflanze kann fast vollständig verwertet werden. Die faserhaltige «Bagasse» wird als Brennstoff für die Energiegewinnung oder zur Produktion von Papier gebraucht. Aus dem Zuckersaft «Guarapo», dessen triefende Süsse mir an diesem Tag den Mund zusammengeklebt hat, werden verschiedene Schnäpse wie der begehrte «Aguardiente» oder Rum gebrannt. Auch der Schnaps Viche, der aus der afro-kolumbianischen Sklavengemeinschaft entstanden ist und heute ein kulturelles Erbe verkörpert, ist ein Produkt ebendieses Zuckersaftes. Eine wachsende Bedeutung geniesst zudem die Herstellung des Kraftstoffs Bioethanol.
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Die Vielfalt des Zuckerrohrs beschränkt sich jedoch häufig auf die Verarbeitung. Oftmals sind die Bauernhöfe reine Zuckerrohrbetriebe, deren Bewirtschaftung zu grossen Teilen von den Zuckerrohrmühlen übernommen wird. Dementsprechend kommt es immer wieder mal zu Unstimmigkeiten zwischen den Raffinerien und den Landwirten. Es werden auch Rückforderungen von Land geltend gemacht, da mit der historischen Expansion der Zuckerrohrplantagen die ansässigen Landeigentümer(innen) teilweise vertrieben wurden. Die Lasten der Vergangenheit des Zuckerrohrs werden auch noch in Zukunft zu den Herausforderungen in dieser Branche zählen.
Extremes Wetter fordert heraus
Was stetig an den Kräften zehrt, sind die Naturphänomene «El Niño» und «La Niña». Vor allem «La Niña» mit ihren heftigen Regenfällen bekommt dem Zuckerrohr nicht gut. Zwar verschlingt Zuckerrohr viel Wasser, doch was zu viel ist, ist zu viel. Die Ernte wird erschwert, hinzu kommen die negativen Effekte der Bodenverdichtung. Nicht einmal die neuesten Sorten könnten in diesen extremen Konditionen ihre hohe Produktivität beibehalten, meint mein Reiseleiter. Der Klimawandel dürfte diese Phänomene verstärken und das Anbaurisiko erhöhen. Ob wir mit steigenden Temperaturen die Freuden des Zuckerrohrs weiterhin in gleicher Weise geniessen können, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.
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Ich werfe einen letzten Blick in die Ferne. Ich sehe ein strukturiertes Pflanzenmeer, in dessen Tiefe die abgründige Vergangenheit schlummert, dessen Flut die Geldbeutel füllt und dessen Ebbe an den Grundfesten des kulturellen Verständnisses hierzulande rütteln würde.