Ich treffe mich in Olivone (TI) in einem Café, das direkt an der Strasse zum Lukmanierpass liegt, mit Matthias Vitali und seinem Vater Doriano. Giorgio Bassi vom Tessiner Landwirtschaftsamt mit Sitz in Bellinzona begleitet uns. Wir wollen uns zur Alpe Pertusio aufmachen. Die Alp ist ein Projekt, das von Bund und Kanton im Rahmen der Strukturverbesserungsmassnahmen (siehe Textbox) finanziell unterstützt wird. Der Kostenumfang beträgt über 3 Mio. CHF, eine stattliche Summe.
Mich treiben die Fragen um: Wer sind die Antragsteller, was treibt sie an, in welcher Form fliessen die regionalen Gegebenheiten ein, was wird im Detail unterstützt? Die Antworten darauf geben mir Matthias und sein Vater, der als Architekt arbeitet, und Giorgio Bassi. Gemeinsam mit dem Patriziat arbeiten sie seit über zehn Jahren an den Plänen. Viel Leidenschaft, Geduld, Optimismus und Unterstützung brauche es, sagen sie mir.
Vater und Sohn zeigen auf Giorgio. Als studierter Agronom bringt er die nötige Erfahrung mit. Bassi bringt die Menschen mit viel Feingefühl an einen Tisch und hat den ganzheitlichen Blick auf das Vorhaben. Anstrengend sei es gewesen, all die Unterlagen für einen Antrag zusammenzutragen. Doch das ist überstanden. Die positiven Bescheide liegen auf dem Tisch, und somit ist der Startschuss gefallen.
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Familie Vitali und ihr Braunvieh
Matthias, 35 Jahre, absolvierte zunächst die Lehre zum Tischler. Danach entschied er sich für eine weitere Ausbildung zum Landwirt. Während er über seinen Werdegang spricht, stelle ich fest, wie viel Ehrgeiz, Zielstrebigkeit, Willen und Leidenschaft in dem jungen Mann stecken. Sein Lebenstraum war für ihn früh klar: Bauer zu sein, einen Hof zu bewirtschaften, eine Alp zu bestossen und Kühe zu züchten. Während seiner Lehrzeit am Plantahof in Landquart (GR) lernte er die deutsche Sprache und nutzte die freie Zeit, viele Höfe anzuschauen.
Zehn Jahre später ist Matthias mit der Südtirolerin Melanie verheiratet und stolzer Vater von zwei Kindern, Joel und Jonas. Seine dunklen Augen sind wach, und ich spüre den Enthusiasmus, wenn er von seinen knapp 35 Milchkühen der Rasse Brown Swiss spricht.
In OIivone bewirtschaftet er den gepachteten Milchviehbetrieb, zu dem 63 ha Fläche gehören, wovon 70% in der Bergzone 4 liegen. Das Patriziat Castro ermöglichte Matthias und seiner Familie, die Alp und deren Flächen für 40 Jahre zu pachten. Das zeugt von einem hohen gegenseitigen Vertrauen.
Begeisterter Braunviehzüchter
15 Kälber und 20 Jungtiere stehen im Stall. Der begeisterte Braunviehzüchter nimmt regelmässig und erfolgreich an Wettbewerben teil: Preise wie Grand Champion am GP Sargans 2013, Vizechampion an der Swiss Classic und am Alpin Festival 2015 gewann er. Ausserdem erhielt Matthias eine Auszeichnung an der Swiss Expo 2019. Der Herdendurchschnitt liegt bei 7500 Kilo Milch pro Jahr mit 3,4% Eiweiss und 3,8% Fett. Matthias ist eine konstante Persistenz seiner Herde wichtig. Qualität steht für ihn über Menge.
Mit rund 50 Kühen bestösst er im Sommer die Alp, zunächst 25 Tage auf der Dötra. Anschliessend zieht er mit den Kühen für 85 Tage auf die höher gelegene Alpe Pertusio. Dötra liegt in der Moorlandschaft Lukmanier. Zudem figuriert Dötra im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung (BLN). Die extensive Bewirtschaftung der Wiesen ist hier die wichtigste Schutzmassnahme. Es handele sich um die höchstgelegenen Wiesen des Tessins, erklärt Matthias. Es sei eine besondere Landschaft, die mit besonders artenreichen Wiesen zwischen 1700 und 1900 m ü. M. einen ganz besonderen Käsegeschmack erzeuge. Und – in der Tat: Ich schmecke es beim Käsedegustieren.
Matthias hat eine Käserin für die Saison angestellt, die seit zehn Jahren die Sommerzeit auf der Alp verbringt. Die im Talbetrieb produzierte Milch wird an Lati Ticino in St. Antonino geliefert. Ebenso gehören zehn Schweine während der Alpsaison zum Tierbestand als Resteverwerter der in der Käserei angefallenen Molke. Die Vitalis räumen für ihren Käse regelmässig die höchste Punktzahl bei der Bewertung ab. Einen Teil des Käses vermarkten sie selbst, einen anderen Teil über regionale Läden.
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Die Strukturverbesserungsmassnahmen
Die Strukturverbesserungsmassnahmen haben prioritär den Erhalt der Bauernbetriebe zum Ziel, die Sicherung der Ernährungsversorgung sowie die Unterstützung benachteiligter Regionen, die überwiegend in den Bergen liegen. Im besten Fall soll die gesamte Umgebung einen Effekt spüren, also die vor- und nachgelagerten Bereiche, zum Beispiel der Tourismus. Die Studie «Regionalwirtschaftliche Bedeutung der Beitragsprojekte der landwirtschaftlichen Strukturverbesserung» hat im vergangenen Jahr die Wertschöpfung unterstützter Projekte untersucht. Das Ergebnis ist erfreulich: Jeder investierte Franke wird grösstenteils innerhalb der Untersuchungsräume zurückgewonnen.
Neben der Stärkung der ländlichen Räume und insbesondere des Berggebiets zielen die Strukturverbesserungsmassnahmen von Bund und Kantonen darauf ab,
- die betriebliche Wettbewerbsfähigkeit sowie die Lebens- und Arbeitsbedingungen auf den landwirtschaftlichen Betrieben zu verbessern
- die landwirtschaftlichen Produktionskapazitäten zu erhalten und gezielt zu stärken
- eine möglichst umwelt- und tierfreundliche Lebensmittelproduktion zu fördern.
Ein weiteres Instrument zur Schaffung von günstigen Rahmenbedingungen sind die Betriebshilfedarlehen. Betriebshilfedarlehen werden als zinslose, rückzahlbare Darlehen gewährt und dienen dazu, eine vorübergehende, unverschuldete finanzielle Bedrängnis zu beheben oder verzinsliche Schulden abzulösen.
Der Bund unterstützt die Strukturverbesserungen in der Landwirtschaft mit jährlich rund 88 Mio. CHF (Referenzzeitraum 2017 bis 2019).
Wildromantisch und unwegsam
Nachdem Vater und Sohn mir die Eckdaten zum Betrieb erläutert haben, geht es auf 2000 m ü. M. zum Standort der Alp. Ein kräftiger Wind weht, Schnee ist gefallen. Die Temperaturen liegen unter dem Gefrierpunkt. Auf der Lucomagno-Passstrasse fahren wir vorbei an Sumpfflächen und Wäldern voller Arven, deren Spitzen schneebedeckt sind. Wir befinden uns im Bleniotal, wo die Quellen des Brenno sind.[IMG 3]
Wir biegen ab und fahren auf einem unbefestigten Weg, der sich am Talboden im Flussbett des Brenno befindet. Bei viel Regen oder Unwetter wird der Weg regelmässig beschädigt, was die Zufahrt erschwert. Am Ende ist ein Gehöft mit einem Baukran zu sehen – der Standort der Alp Pertusio.
Ein wunderbarer Ort, eingebettet von Felsen. Aus einem sprudelt die Quelle des Brenno. Ich sehe eine sehr einfach ausgestattete Felshütte aus dem frühen 20. Jahrhundert, die als Heimat für die Käserin und die Sennen sowie als Molkerei und Verkaufsraum zugleich dient. Es ist offensichtlich: Die derzeitige Situation entspricht nicht vollständig den hygienischen Anforderungen.
Der Raum lässt angesichts des Platzmangels kein rationelles Arbeiten zu. Der Keller befindet sich 50 m von der Hütte entfernt, ist unterirdisch und besitzt eine Lagermöglichkeit für maximal 600 Käselaibe – zu klein. Gemolken wird mit einem Melkwagen – auf keinen Fall mehr zeitgemäss. Der Schweinestall besteht aus einem einfachen Unterstand mit Trog und Wanne.
Die Stromversorgung erfolgt mit einem Dieselgenerator. Das Wasser nimmt ein Sammelbecken auf, dann wird es über eine 900 m lange, oberirdische Leitung zur Alp geführt. Mir ist klar: Investieren oder Aufgabe der Alp standen zur Debatte. Die Entscheidung des Patriziats, der Vitalis, von Kanton und Bund ist vor zehn Jahren gefallen. Auffallend der gesamtheitliche Blick aller Beteiligten: «Die natürlichen Gegebenheiten fliessen ein. Zudem entwickeln wir einen Energiekreislauf, der CO2-neutral ist. Der Einbezug der ansässigen Menschen ist für uns selbstverständlich. Wir wollen, dass viele daran teilhaben. All diese Gesichtspunkte unter einen Hut zu bekommen, benötigt Zeit», sagt Giorgio Bassi.
Restrukturierung mit Weitblick
Angesichts des 40-jährigen Pachtvertrages für die Alp mit dem Patriziat von Castro sowie die angrenzenden Weiden der Alpe Rondadura der Abtei Disentis für 25 Jahre, die direkt hinter dem Lucomagno-Pass liegen, beschlossen die Familie und das Patriziat, die Neugestaltung der Infrastruktur der Alp in Angriff zu nehmen.
Unzählige Gespräche mit den Beteiligten des Patriziats, den Ämtern und angrenzenden Alpen und Bauern fanden statt. Ein umfangreicher Antrag für das Millionenprojekt wurde gestellt. Die gesamthafte Investitionssumme beträgt 3 018 000 CHF, die sich wie folgt aufteilen: Sanierung der Gebäudestruktur der Alp. Das umfasst den Neubau von Molkerei und Nebengebäuden inklusive Verkaufs-, Technikraum, Melkbereich, Güllegrube, Unterkunft für das Personal sowie Lagerkapazitäten für 900 Käselaibe. Die Kostenschätzung beläuft sich auf rund 1,8 Mio. CHF.
Die restliche Summe verteilt sich auf die Investitionen in Elektrizität, Wegerschliessung und Wasserleitung, wovon umliegende Alpen und Bauernhöfe profitieren. Die kantonale Investitionshilfe beträgt 1,08 Mio. CHF. Der Bund unterstützt die Infrastrukturmassnahmen mit 766 000 CHF. Gönner unterstützen das Projekt mit 563 000 CHF. Der Restbetrag von 607 000 CHF ist ungedeckt und muss durch eine Bank oder andere Kreditgeber finanziert werden.
Viel Verantwortung
Ein Generationenprojekt von hoher Tragweite für Familie Vitali, das Patriziat und die Region: geplant mit Feingefühl unter Einbezug der Initiatoren, der Menschen vor Ort und der Naturgegebenheiten. Die Leidenschaft und positive Blickrichtung beeindrucken mich wie auch der ganzheitliche Blick. Auch wenn viele Arbeitsabläufe optimiert werden und die Infrastruktur auf den neuesten Stand gebracht wird, ist es für Familie Vitali und ihre Angestellten ein hartes Business mit viel Verantwortung, das sie für den Erhalt und die Weiterentwicklung der Alpe Pertusio und der landwirtschaftlichen Strukturen erbringen.