Mit einem freudigen Ausdruck im Gesicht rollt Anita Knuchel zügig um die Hausecke. Die 63-jährige Bäuerin aus Iffwil BE ist mit neun Kilometern pro Stunde in ihrem geländegängigen Rollstuhl unterwegs. «Jeden Nachmittag bin ich mit meinem Hund Queeny für mehrere Stunden draussen, am liebsten im Wald.» Dass das so ist, ist nicht selbstverständlich.

«Mir war ganz sturm»

Vor zweieinhalb Jahren veränderte sich Anita Knuchels Leben von einer Sekunde auf die andere grundlegend. Wie so oft ritten sie und ihr Mann Heinz am Abend des 18. Dezembers 2017 gemeinsam aus, als ihr plötzlich ganz «sturm» wurde. Ein Schwindel im Kopf veranlasste sie am Rand einer Hauptstrasse abzusteigen. «Wahrscheinlich fiel ich schlussendlich noch vom Pferd. Ich erinnere mich, wie ich am Boden lag, im Brustbereich einen Schmerz wie Dolchstiche spürte und laut schrie.» Just in diesem Moment kam eine Autofahrerin angefahren und hielt. «Wir trugen Leuchtwesten, so dass man uns gut sah», erinnert sich die Bäuerin zurück. Während sich ihr Mann um die Pferde kümmerte, fuhr die Frau mit Anita Knuchel zum Hof und informierte eine Nachbarin, die Krankenschwester ist. Diese alarmierte sofort die Ambulanz. «Zu diesem Zeitpunkt war ich noch nicht gelähmt.»

Der zuständige Rettungssanitäter erkannte sofort, dass Anita Knuchel einen Aortariss (Riss in der Hauptschlagader) hatte. Man fuhr mit Blaulicht ins Inselspital in Bern, und sie kam sofort in den Operationssaal. «Während der Operation erlitt ich einen Schlaganfall und einen Herzstillstand, dadurch wurde die Blutversorgung meiner Wirbelsäule beeinträchtig und die Nervenzellen geschädigt. So kam es zur Lähmung.» Gefasst erzählt sie ihre Geschichte.

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Auf Leben und Tod

Monate verbrachte Anita Knuchel auf der Intensivstation, bevor sie nach Nottwil LU ins Paraplegiker-Zentrum verlegt wurde. «Bei einem Aortariss besteht Lebensgefahr. Auch bei mir stand es auf Messers Schneide, ob man die Maschinen abstellen soll oder nicht.» Ihre Stimme bricht. Man merkt, dass das Erlebte noch sehr präsent ist. «Ein Aortariss ist genetisch bedingt. Ein Onkel von mir hatte das auch. Wir dachten jedoch, dass sein Übergewicht dafür verantwortlich war», fährt Anita ­Knuchel fort.

Die schlanke Frau ist vom Brustbein an gelähmt. Mühsam musste Anita Knuchel sich eine Stabilität des Oberkörpers erarbeiten. Alle Handgriffe mussten neu erlernt werden. «Ich habe keine Bauchmuskeln, die mir helfen.» Wegen des Schlaganfalls musste sie auch wieder sprechen lernen. «Nicht mehr kommunizieren zu können, war schlimmer für mich, als nicht mehr gehen zu können.»

Den Alltag neu meistern

Auf dem Bauernhof war nichts darauf ausgerichtet, dass dort eine Person im Rollstuhl wohnt. Heute ist das Haus im Eingangsbereich mit einer Rampe ausgestattet. Statt über eine Treppe gelangt man mit einem Lift in den oberen Stock, und die Badewanne ist einer begehbaren Dusche gewichen. «Bei der Küche liessen wir eine Seite wie sie war. Die Seite mit dem Waschbecken haben wir rollstuhlgängig umgerüstet», erklärt Anita Knuchel. Will heissen: Die Arbeitsflächen sind tiefer als normal, und der Platz darunter ist frei. So hat es Platz für den Rollstuhl und die Beine.

«Es gibt sogar Küchenschränke, die man elektronisch runterlassen kann, damit man besser an die Dinge gelangt.» Solche hat die diplomierte Bäuerin nicht. Ein Blick in die Schränke lässt aber erahnen, dass in dieser Küche eine gut organisierte und praktisch veranlagte Frau am Arbeiten ist: Lebensmittel und Gewürze sind systematisch in beschrifteten Boxen geordnet, die man gut herausziehen kann. Eine Lage oberhalb hilft ein Schnürchen am Griff, damit sie die Boxen selbstständig herausziehen kann. Und zuoberst sind Dinge, die sie nur selten braucht.

«Ich fahre immer mit Vollgas.»

Anita Knuchel, übers Unterwegssein im Rollstuhl

Nicht mehr so schnell, wie früher

Beim Kochen, Putzen und im Garten braucht Anita Knuchel Hilfe. «Dreimal die Woche habe ich eine Frau für einen halben Tag angestellt.» Brot backt sie immer noch selber. Sie hat bei der Dittligmühle Gantrisch die «Ruck-Zuck»-Fertig-Backmischungen entdeckt, die sehr gut schmecken. In einem Becken im Abwaschtrog knetet sie den Teig. «Bevor ich beginne, muss ich alles bereitstellen, sonst habe ich Teig von den Händen an den Rädern des Rollstuhls, wenn ich mich bewegen muss.»

Bei ihr, der es früher nicht schnell genug gehen konnte, – «Ich war sehr sportlich, ritt Pferdedressur, rannte jede Treppe hoch und half auf dem Betrieb bei den Kartoffeln, den Schweinen und den Pferden mit.» – dauert nun alles viel länger. «Früher räumte ich die Geschirrspülmaschine in zwei Minuten aus, als ich frisch nach Hause kam dann in dreissig und nun schaffe ich es doch schon in zehn Minuten.»

Ärger mit den Versicherungen

Die baulichen Veränderungen im Haus und die Zusatzgeräte, die sie benötigt, wurden alle von den Versicherungen bezahlt? Dem sei nicht so. Ein Trainingsgerät, das an einen Hometrainer erinnert oder den höhenverstellbaren Tisch bezahlte sie selber, wie auch den Küchenumbau. «Es hiess, ich müsse ja nicht mehr selber kochen.» Immerhin einen Teil der Liftkosten und der Umbau des Badezimmers wurde übernommen. «Ganz wichtig sind Türrahmen von 80 Zentimetern Breite. Bei 70 Zentimetern wird es je nach Rollstuhl knapp», rät Anita Knuchel allen, die Baupläne hegen. «Man weiss nie, wann sich die Lebenssituation ändert.» Auch sie nicht, gibt sie zu.

Hadert man da nicht manchmal mit dem Schicksal und braucht sogar psychiatrische Hilfe? «Ich bin und war schon immer ein sehr positiv denkender Mensch. Deshalb konnte ich mich selber moralisch aufbauen.» Was Anita Knuchel bereut ist, dass sie als Selbstständige nur eine Unfallversicherung abschloss und nicht auch eine Krankentaggeldversicherung. «Die Chance einen Unfall zu haben, ist viel grösser. Mein Aortariss war aber kein Unfall, sondern Krankheit.» Die Versicherungsleistungen fielen so viel geringer aus.

Immerhin wies ihr Mann für sie einen Lohn aus, darauf aufbauend wurde die Invaliden-Rente berechnet. Aber auch hier: «Für all meine kleinen Nebenjobs, wie z. B. der Schwiegermutter die Beine einbinden, also eine Pflegeleistung, hatte ich keine Belege.» Folglich wurden diese von der Invalidenversicherung nicht angerechnet. Anita Knuchel rät, für möglichst vieles eine Quittung zu verlangen. «Es muss nicht zwingend Geld fliessen.»

Sich Hilfe holen

Sich nach solch einem Schicksalsschlag ins Leben zurückkämpfen und wieder Selbstständigkeit erlangen, sei das eine, sich mit den Versicherungen herumschlagen, das andere. Der Papierkrieg sei gross gewesen. Schreiben wollten verstanden, Fristen mussten eingehalten und Gesuche gestellt werden. «Wir holten uns Hilfe bei einem Rechtsanwalt der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung», erzählt Anita Knuchel.

 

Hier bekommt man Hilfe

Die Schweizer Paraplegiker-Gruppe ist das Kompetenzzentrum für Menschen mit Querschnittlähmung in der Schweiz und im nahen Ausland. Teile von ihr sind unter anderem die Schweizer Paraplegiker-Stiftung, das Schweizer Paraplegiker-Zentrum oder die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung.

Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ): Hier werden Menschen mit einer Querschnittlähmung rehabilitiert und integriert. D. h., sie werden auf den Alltag mit Rollstuhl in Familie, Beruf und Gesellschaft vorbereitet. Das SPZ finanziert sich zu einem Teil aus leistungsgebundenen Versicherungs- und Kantonsbeiträgen, zum anderen Teil aus Mitteln der Schweizer Paraplegiker-Stiftung.

Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS): Sie finanziert sich aus Gönnerbeiträgen, Spenden und Legaten. Als Gönner(in) wird man bei unfallbedingter Lähmung mit einem Betrag von maximal 250 000 Franken unterstützt, unabhängig von anderen Versicherungsleistungen, die fliessen. Dies sei sozusagen eine Starthilfe in ein komplett verändertes Leben, heisst es von Seite SPS.

Zusätzlich behandelt die SPS jährlich zahlreiche Direkthilfe-Gesuche für Menschen, die Opfer schwerer Wirbelsäulen- und Rückenmarkschädigungen sind. 17,4 Millionen Franken wurden 2019 als Direkthilfe ausbezahlt.

Schweizer Paraplegiker-Vereinigung: Der nationale Dachverband der Querschnittgelähmten zählt zirka 11 000 Mitglieder und 27 Rollstuhlclubs. Sie vermittelt Rechts- und Lebensberatung, hilft bei (Um)Bauten, organisiert Freizeitaktivitäten und unterstützt bei Reisevorbereitungen.

Weitere Informationen: www.paraplegie.ch

 

Auch der Kauf des richtigen Rollstuhls war nicht einfach. «Auf einem Bauernhof braucht es zwei Rollstühle: einen für drinnen und einen für draussen.» Den für drinnen bezahlte die Invalidenversicherung komplett, der für draussen wurde zum Teil entschädigt.

Richtig unterwegs sein

Die Bäuerin hat einen geländegängigen Rollstuhl gefunden, der relativ leicht und vielseitig einsetzbar ist. «Als ich einmal aufs Feld fuhr – quer über den Kartoffelacker versteht sich – konnten die Mechaniker, die etwas am Vollernter flicken mussten, nicht mehr weiterarbeiten. Sie trauten ihren Augen nicht, was da auf die zugefahren kommt», beschreibt Anita Knuchel die Robustheit ihres Gefährts. Nebst den Spazierfahrten mit ihrem Hund, kann sie mit ihm auch die Pferde auf die Koppel bringen und sogar die Fütterung übernehmen.

So lange sie die Autoprüfung für ein Behindertenauto noch nicht in der Tasche hat, ist ihr Bewegungsradius durch ihren Offroader-Rollstuhl trotzdem recht gross und sie hat damit ein Stück Freiheit wiedererlangt. «Beim neuropsychologischen Test bin ich leider zweimal durchgefallen.» Nur wer diesen bestanden hat, darf Auto fahren. Sie übt jetzt mit einem Studenten aus dem Dorf am Computer für den Test. «Wir spielen Computer-Games, damit ich schneller werde im Kopf.»

Wer mit Anita Knuchel schritthalten will, muss schnell sein. «Ich fahre immer mit Vollgas», meint sie mit einem herzhaften Lachen. Sie packt ihr Täschchen und macht sich bereit. Queeny und sie wollen endlich los in den Wald.