Welche Wolfart(en) kommen in der Schweiz vor?
Daniel Mettler: Die bisher in der Schweiz identifizierten Wölfe (Canis lupus) stammen aus der italienisch-französischen Alpenpopulation. Typisch sind das beige-graue Fell mit heller Gesichtsmaske und die dunklen Streifen auf den Vorderbeinen.
Weshalb greifen Wölfe überhaupt Nutztiere an, wo es doch viel Wild gäbe?
Wölfe sind Opportunisten und erbeuten diejenigen Tiere, die sie mit dem geringsten Aufwand erwischen. Bei den Wildtieren sind dies oft kranke, junge oder geschwächte Tiere, bei den Nutztieren meistens Schafe.
Können Hirten Wölfe allein durch ihre Präsenz von einer Nutztier-Herde fernhalten?
Die Präsenz des Hirten ist nur ein indirekter Schutz, da durch die Behirtung die Tiere kontrolliert geführt und mit Hunden und Zäunen geschützt werden können. Die alleinige Präsenz des Hirten schützt vor allem bei Nacht oder Nebel wenig oder gar nichts.
Was könnten Hirten tun, wenn sie einen Wolfsangriff beobachten?
Bei jeder Wolfssichtung sollte der Wolf vertrieben werden. Dies kann mit Lärm und Bewegung geschehen, wie man einen Fuchs oder fremden Hund vom Grundstück vertreiben würde. Der Wolf soll merken, dass er nicht willkommen ist.
Haben auch Treibhunde (oder Haushunde) einen abschreckenden Effekt oder nur Herdenschutzhunde?
Bellende Hunde jeglicher Art können vor allem in der Nacht eine abschreckende Wirkung haben. Sind aber mehrere Wölfe auf der Jagd können sie nur Herdenschutzhunde dauerhaft vertreiben. Denn sie arbeiten als Hunderudel und haben auch die nötige physische Präsenz, um gegen die geschickten Jagdstrategien der Wölfe bestehen zu können. Haus- und Treibhunde ziehen im Ernstfall den Schwanz ein.
Wieviel Erfahrung hat man in der Schweiz mit Eseln oder Lamas als Beschützer-Tiere?
Die Schutzfunktion der Lamas ist begrenzt auf kleinere, eingezäunte Herden und empfiehlt sich vor allem gegenüber streunenden Hunden oder Füchsen. Nur bei geringem Wolfsdruck können sie Einzeltiere vertreiben. In der Schweiz arbeiten etwa 30 Kleinviehbetriebe mit Lamas als Schutztieren. (Weitere Informationen dazu auf www.herdenschutzschweiz.ch)
Weshalb ist in der Schweiz nur zwei Herdenschutzhunde-Rasse zugelassen bzw. vom Bund gefördert?
Die Strategie des Bundes stützt sich auf das Prinzip der Leistungszucht, um längerfristig die Qualität der Herdenschutzhunde (HSH) zu optimieren. Aus diesem Grund werden zurzeit nur zwei HSH-Rassen systematisch gefördert, um die Zuchtziele der Effizienz und der Sozialverträglichkeit zu erreichen. Sowohl für die Zucht wie auch für die Einsatzbereitschaft werden die Hunde getestet.
Man hört oft von Zwischenfällen mit Wanderern und Hunden oder aufgeschreckten Mutterkühen – wie häufig sind diese wirklich?
Die Risiken bei Mutterkuhherden sind vorwiegend auf die Dynamik zwischen Jung-und Muttertieren in einer Herde und weniger auf Verhaltensänderungen durch die Wolfspräsenz zurückzuführen. Zurzeit klärt eine nationale Arbeitsgruppe, inwiefern die Wolfspräsenz einen Einfluss auf das Verhalten von Mutterkuhherden haben könnte.
Bei den Beissvorfällen mit Herdenschutzhunden führen wir eine Statistik, wo jeder Fall analysiert wird, damit die richtigen Massnahmen getroffen werden können. In den letzten Jahren registrierten wir jährlich zwischen 10 und 20 Beissvorfällen, wobei die Tendenz leicht steigend ist.
Zahlen zum Herdenschutz
60 bis 80 Wölfe italienischer Abstammung lebten 2019 in der Schweiz, vor allem im Hochgebirgs- und Voralpenraum. Jedes Jahr wandern neue Individuen aus Italien und Frankreich ein.
Jährlich gibt es im Durchschnitt 400 Wolfsrisse, sowie einige Dutzend Risse durch Luchse und Bären. Meist sind die Opfer Schafe oder Ziegen.
Dem Bundesprogramm Herdenschutz Schweiz steht ein Jahresbudget von knapp 2,8 Millionen Franken zur Verfügung (Stand 2020)
2019 gab es in der Schweiz 200 Schafalpen mit Behirtung, 200 Alpen mit Umtriebsweiden und 350 Alpen mit Standweiden. 96 Alpen waren geschützt, die Hälfte davon mit ständiger Behirtung.
Rund 43'000 Schafe, 1'100 Ziegen und 600 Rinder wurden 2019 im Rahmen des Bundesprogramms Herdenschutz mit Schutzhunden geschützt.
In einem Merkblatt steht, aktuell seien vor allem Sömmerungsweiden von Wolfsangriffen betroffen, man müsse aber damit rechnen, dass in Zukunft auch vermehrt Herbst- oder Frühjahrsweiden in den Fokus kommen. Woran liegt das?
Das Verbreitungsgebiet der Wölfe dehnt sich aus, insofern ist dies eine logische Folge. Im Unterschied zu den Sömmerungsweiden sind die Weiden meist kleiner, eingezäunt und werden von den Tierbesitzern und nicht den Hirten bewirtschaftet.
Bedeutet das, dass in Zukunft die Wolfsabwehr eine ganzjährige Aufgabe wird?
Ausserhalb der Weidezeit von November bis März könnte der Herdenschutz höchstens auf der Winterweide ein Thema werden. Während der Weidezeit sollte vor allem in den Gebieten mit konstanter Rudelpräsenz der Herdenschutz mit eingeplant werden. Wichtig ist allerdings immer eine sorgfältige Betriebs- und Risikoanalyse, um den zusätzlichen Aufwand für den Schutz zu optimieren.
Es gab eine Studie mit den abwehrenden Schaf-Halsbändern gegen Wölfen. Zu welchen Schlüssen ist man damals gekommen?
Die Studie konnte aufgrund von technischen und finanziellen Problemen nicht zu Ende geführt werden. Die bedeutet, dass bis heute kein Halsband zur Vergrämung auf dem Markt ist. Die Probleme bei der Entwicklung waren so zahlreich, dass ich sie hier nicht auflisten kann.
Und mit welchen «angsteinflössenden Stimuli» am Halsband wollte man damals arbeiten?
Als abschreckende Stimuli wollte man Licht und Lärm sowie Gas einsetzen. Alle drei Stimuli konnten aber auf den Halsbändern nicht dauerhaft mit genügend Energie versorgt werden. Zudem wollte man die Vergrämung mit erhöhter Herzfrequenz der Tiere koppeln, was auch nicht wirklich funktioniert hat.
Gibt es eine generelle Empfehlung, keine trächtigen Tiere (Schafe oder Rinder) auf Alpweiden zu lassen?
Es gibt schon seit geraumer Zeit die Empfehlung, Geburten auf der Alp für alle Tiergattungen zu vermeiden, da das Risiko für Komplikationen aufgrund von Wetter, Topografie und Weideführung erhöht ist.
Mit welchen Umständen/Aufwänden/Herausforderungen ist das für Tierhaltende und Älplerinnen und Älpler verbunden?
Für das Alppersonal ist es in jedem Fall eine Entlastung, wenn die Tiere nicht auf der Alp abkalben oder ablammen. Für die Tierbesitzer ist es eine Frage der Betriebsorganisation. Saisonale Preisschwankungen, Abnahmeverträge und Vermarktungsstrategien müssen dabei insbesondere bei der Mutterkuhhaltung berücksichtigt werden.
Welchen Zauntyp setzt man am besten wo und bei welchem Nutztier ein?
Wir empfehlen die handelsüblichen Materialen für das Kleinvieh. Für die Schafe werden mehrheitlich Elektronetze verwendet, für die Ziegen eher Litzen. Dabei empfehlen wir bei erhöhtem Wolfsdruck 1.05 m mit 5 Litzen oder Elektronetze. Wichtig ist insbesondere der Bodenabschluss sowie eine ausreichende Stromspannung (mind. 3000 Volt) und in Steillagen eine bergseitige Erhöhung. Hilfreich für eine optimale Sichtbarkeit sind zusätzliche Flatterbänder.
Es gab einmal einen männlichen Wolf, der verschiedentlich Zäune übersprungen hat, obwohl die Grossraubtiere sich sonst eher auf den Boden konzentrieren und evtl. versuchen, sich unter einem Zaun durchzugraben. Wie schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass so etwas wieder vorkommt?
Das Auftauchen von auffälligen Tieren ist unvorhersehbar, aber immer möglich. Aufgrund der Erfahrungen der letzten 20 Jahre im In-und Ausland kommt dies selten vor.
Wie könnte man in einem solchen Fall vorgehen (Abschuss)?
Falls Wölfe lernen, Zäune zu überspringen, ist es praktisch unmöglich, ihnen das wieder abzugewöhnen. Deshalb sollten Tiere, die lernen, die normalerweise ausreichenden Schutzmassnahmen zu umgehen, möglichst rasch entfernt werden.
(Anmerkung der Redaktion: Wölfe, die lernen, Zäune zu überspringen, können gemäss Wolfskonzept des Bundes entfernt werden.)
Muss damit gerechnet werden, dass bei wachsenden Wolfspopulationen in der Schweiz die Tiere im Rudelverband versuchen werden, auch erwachsene Rinder anzugreifen?
Bisher hatten wir glücklicherweise wenig Übergriffe auf Rindvieh. Ein ausreichendes Nahrungsangebot durch die Wildtiere, insbesondere die Hirsche, spielt dabei sicher eine Rolle. Bei den Mutterkühen ist die Schutzfunktion der Herde ein wichtiger Faktor, während Kälberweiden oder Jungviehweiden im Sömmerungsgebiet nur schwierig zu schützen sind. Stützen wir uns auf die Schadenstatistiken der Nachbarländer, ist der Anteil der Schäden beim Rindvieh in den letzten Jahren leicht gestiegen. Im Vergleich zum Kleinvieh ist der Anteil von 2-4% aber trotz der flächendeckenden Rudelbildung relativ gering.
Allein umherstreifende Wölfe sollen mehr Schaden anrichten, als Rudel. Können Sie das bestätigen? Was ist der Grund dafür?
Dies trifft generell so nicht zu. Tatsache ist, das abwandernde Jungtiere, die noch nicht ausreichend Jagderfahrung haben, teils mehr Tiere verletzen und töten, als das eingespielte «Jagdteam» eines Rudels. Dies hat zur Folge, dass wir pro Angriff bei Einzeltieren oft mehr tote und verletzte Tiere zählen. Da in einem Rudelverband aber mehr Tiere versorgt werden müssen während dem ganzen Jahr, wächst der konstante Druck auf Wild und Nutztiere und die Anzahl Angriffe kann sich deshalb erhöhen. Es ist aber nicht nur eine Frage der Jagdstrategien des Wolfes sondern auch wie sich die Verfügbarkeit der Beute und die Schutzstrategien der Hirten und Tierhalter entwickeln.
Wie viele Wölfe könnten sich in der Schweiz etablieren?
Mögliche Entwicklungszenarien werden durch zwei Grenzen definiert. Es gibt eine ökologische wie auch eine gesellschaftliche Kapazitätsgrenze des Lebensraumes. Die gesellschaftliche Kapazitätsgrenze liegt meist wesentlich tiefer, da Abschüsse aufgrund von Konflikten miteingerechnet werden. Bei einer Studie wurden als Minimum für eine überlebensfähige Wolfspopulation 125 Rudel für den gesamten Alpenraum berechnet. Der Schweiz wurden dabei 17 Rudel «zugeordnet». Inwiefern diese Zahl nun mit der gesellschaftlichen Kapazitätsgrenze vereinbar ist, wird sich zeigen. Zurzeit haben sich 11 Rudel vor allem in den Bergkantonen etabliert.
Könnten Wölfe menschliche Jäger eines Tages vollständig ersetzen?
Gleichgewichte und Ungleichgewichte pendeln in Ökosystemen hin und her. Die Natur reguliert sich schlussendlich immer selber. In diesem Sinne müssten wir uns also keine Sorgen um sie machen. Solange wir aber als zentrale Akteure konstant in dieses System eingreifen, sind wir ein integrierter Bestandteil von dieser (Un)-Gleichgewichts-Dynamik. Aufgrund dieser Schicksalsgemeinschaft sind wir gefordert, das System möglichst nachhaltig zu gestalten.
Aktuelle Herausforderungen im Herdenschutz
Agridea sieht Stand 2020 folgende Herausforderungen:
- Konfliktpotenzial Tourismus-Herdenschutzhunde
- Vielerorts für Herdenschutz suboptimale Alpstrukturen
- Schutz von Heimweiden
- Mangel an erfahrenen Hirten
- Optimierung von Zucht und Ausbildung der Herdenschutzhunde
- Hoher Anteil an Nebenwerwerbsbetrieben, kleinstrukturierte Betriebe