Ende Dezember 2019 blickte ich voller Vorfreude in die Zukunft und voraus auf ein Jahr, in dem mein Traum von der Teilnahme an Olympischen Spielen in Tokio Realität werden sollte. 12 Monate später befasse ich mich wieder mit meinen Zielen und blicke dabei erneut in Richtung des sportlichen Grossanlasses in der japanischen Hauptstadt. Dazwischen liegt ein Jahr, wie ich es nicht erwartet und mit Sicherheit noch nie erlebt habe.
Olympia im Visier
Aus sportlicher Perspektive stand das Jahr 2020 für mich von allem Anfang an unter einem besonderen Stern. Schliesslich waren in meinem Kalender gleich zwei internationale Grossanlässe, für die ich mich qualifizieren wollte, dick eingetragen. In den Monaten zuvor hatte mit dem Support meiner Eltern, mit denen ich in Nussbaumen (TG) einen Landwirtschaftsbetrieb als Generationengemeinschaft betreibe, mein Umfeld sowie meine persönliche «Sport-Work» Balance weiter optimiert. Ich war entschlossen, alles dafür zu tun, um meinen grossen Traum von einer Olympiateilnahme schon 2020 zu realisieren. Dazu gehörte im Januar ein Trainingslager in Kenia, um mich schon früh im Jahr in Form zu bringen. Gefolgt von einem ersten Wettkampf in Barcelona Ende Februar über die Halbmarathondistanz. Es sollte mein letzter grosser Lauf für mehrere Monate bleiben.
Schnell mit der neuen Lage abgefunden
Zwei Wochen nach meiner Rückkehr aus Spanien am 27. Februar, rief der Bundesrat aufgrund der rapide ansteigenden Corona-Fallzahlen die ausserordentliche Lage für die Schweiz aus. Grossveranstaltungen wie der Autosalon in Genf oder die Basler Fasnacht wurden abgesagt, Restaurants, Cafés, Kinos, Fitness-Center und zahlreiche Geschäfte mussten schliessen. Der Sport rückte in den Hinter-, der Schutz von Bevölkerung und Gesundheitssystem in den Vordergrund. Als Spitzensportler war das bitter und doch gleichzeitig alternativlos. Ich fand mich rasch damit ab.
Auch weil sich mein Alltag nicht gross veränderte. Mein 40% Arbeitspensum auf unserem Hof sowie das tägliche Training lenkten mich ab, liessen nicht zu, dass eine negative Stimmung aufkommt.
Meine Arbeit war schon immer Energiequelle und Zufluchtsort, wenn ich im Sport Enttäuschungen verarbeiten musste – und so war es auch dieses Mal. Kommt hinzu, dass Corona wohl meine Wettkämpfe verhindern, nicht jedoch meinen Trainingsplan über den Haufen werfen konnte. Als Läufer war ich ohnehin regelmässig alleine und in der Natur unterwegs. Künftig würde das einfach häufiger vorkommen.
Auch Paris wird abgesagt
Ende März war dann klar, dass meine Olympiatraum für das Jahr 2020 platzten würde. Sofort wechselte ich meinen Fokus auf das zweite grosse sportliche Ziel des zu Ende gehenden Jahres – die EM über die Halbmarathondistanz im August in Paris. Ich hatte bereits 2018 in Berlin EM-Luft schnuppern können und wollte dieses Gefühl unbedingt wieder erleben. Vier Wochen später mussten jedoch auch die Titelkämpfe in der französischen Hauptstadt abgesagt werden.
Schliesslich dauerte es bis Ende Juni, ehe erste nationale Wettkämpfe über kürzere Distanzen wieder stattfinden konnte. Ich nahm aus Trainingszwecken daran teil. Am 6. September folgte mit dem Switzerland Marathon light in Sarnen dann erstmals seit Februar wieder ein Halbmarathon, welchen ich gewinnen konnte. Für mich ein tolles Erlebnis und ein guter Start in die Herbstsaison, die mit insgesamt zwei Rennen über diese Distanz leider ebenfalls sehr kurz ausfiel.
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Der Alltag eines Spitzensportlers ist normalerweise durchgetaktet. Die Corona-Krise brachte da eine gewisse Änderung. (Bild Patrik Wägeli)
Alltag auf dem Hof
Während 2020 sportlich eigentlich gar nicht stattfand, wurde die Tätigkeit auf unserem Hof durch Covid-19 kaum beeinträchtigt. Als Ackerbau- und Milchwirtschaftsbetrieb waren die Auswirkungen der weltweiten Pandemie bislang nur geringfügig spürbar. Das könnte sich mittelfristig ändern, falls auch im kommenden Jahr noch kein effektives Gegenmittel gegen das Virus gefunden wird. Was dies für unseren Landwirtschaftsbetrieb bedeuten würde, ist aktuell aber noch nicht absehbar. Trotzdem haben wir in den letzten Monaten einige Weichen für die Zukunft gestellt. Denn 2021 wird für unsere Generationengemeinschaft das letzte Jahr in der aktuellen Konstellation mit meinen Eltern – 2022 werde ich dann vollständig übernehmen. Insofern hatte die Absage zahlreicher Wettkämpfe auch etwas Gutes. Die Zeit, welche ich nun nicht an Läufen im In- und Ausland verbrachte, konnte ich zusätzlich in meine Arbeit auf dem Hof investieren.
Die Krise hat auch gute Seiten
Des Weiteren hat mich COVID-19 – wie vermutlich viele andere auch – dazu aufgefordert, gewisse Dinge zu akzeptieren und den entsprechenden Herausforderungen und Aufgaben mit maximaler Flexibilität zu begegnen. Für gewöhnlich sind meine Tage zwischen Training, Arbeit, Wettkampf und Erholung durchgetaktet und von Routine geprägt, zuletzt jedoch weniger als sonst. Ich glaube jedoch nicht, dass es mir geschadet hat, auch einmal aus meiner Komfortzone herauszutreten. Im Gegenteil.
2021: Tokio zum Zweiten?
Werfe ich einen Blick voraus, freue ich mich trotz der aktuell unverändert ernsten Lage auf das kommende Jahr. Sportlich steht es ganz im Zeichen der Olympischen Spiele, welche mit einem Jahr Verspätung im Juli in Tokio stattfinden sollen. Bereits viel früher entscheidet sich, ob ich dort am Start sein werde – oder mich auf die Spiele 2024 in Paris konzentrieren muss. Spätestens im März werde ich an einem Qualifikationswettkampf voraussichtlich die Chance erhalten, die Olympia-Limite zu laufen. Darauf werde ich mich zu Beginn des Jahres gezielt vorbereiten, u.a. erneut mit einem mehrwöchigen Trainingslager in der kenianischen Höhenluft.
Die Zukunft des Hofes planen
Parallel dazu werde ich mich aber auch mit der Zukunft unseres Hofes befassen. Dabei geht es auch darum, wie ich den Hof nach der kompletten Übernahme von meinen Eltern im Januar 2022 strukturieren möchte. Schliesslich möchte ich sicher bis 2024 weiterhin Spitzensport auf höchstem Niveau betreiben, was bedingt, dass ich mir parallel zur Arbeit entsprechend grosse Freiräume für Training und Erholung schaffen muss. Hinzu kommen äussere Einflüsse, welche die Zukunft unseres Betriebes ebenfalls beeinflussen werden. Im Juni kommt z.B. die «Initiative für sauberes Trinkwasser» zur Abstimmung. Für Abwechslung und Spannung dürfte als auch 2021 gesorgt sein.
Der «Fastest Farmer»
Patrik Wägeli (29) aus dem thurgauischen Nussbaumen ist amtierender Schweizer Marathonmeister und Landwirt. Mit einem 40%-Pensum auf dem eigenen Hof, den er 2022 komplett von seinen Eltern Thomas und Susanne übernehmen wird, ist er ein absolutes Unikat in der erweiterten Marathon-Weltspitze. Grosses Karriereziel des «Fastest Farmer» ist die Qualifikation für die Olympischen Spiele – entweder kommenden Sommer in Tokio oder in knapp vier Jahren anlässlich der Spiele in Paris.