Kürzlich habe ich meinen ehemaligen Oberstufenlehrer zum Kaffee getroffen. Er sagte mir, er habe zwar einiges mitbekommen, aber nicht gewusst, wie schlimm es wirklich war.
«Du bist hässlich»
Ich wurde massiv gemobbt. Das hatte schon im Kindergarten begonnen und zog sich durch die ganze Schulzeit. Ich machte nur ein Jahr Kindergarten. Zu einer bereits etablierten Gruppe zu stossen, war nicht einfach. Ich fand nie richtig Anschluss, und man machte sich über meine Liebe zu unseren Geissen lustig. Weil meine Mutter in der Schwangerschaft einen Mangel hatte, waren meine Milchzähne schwarz. Das hat auch nicht gerade geholfen.
«Mir wurde jeden Tag der Tod gewünscht.»
Die Bauerntochter wuchs auf dem Land auf, doch das stoppte das Mobbing nicht.
Dann kam ich in die Oberstufe. Es wurde mir jeden Tag der Tod gewünscht, mir gesagt, ich sei nichts wert und solle mich umbringen. Ich sei hässlich. Ich würde stinken und «böckele». Meine Pausen habe ich allein verbracht, bis ich mich im letzten Jahr mit einigen Achtklässlern anfreundete.
Zunehmen klappte nicht
Ich bin sehr schlank und wurde auch dafür angefeindet. Ich habe verzweifelt versucht, zuzunehmen, aber das geht irgendwie nicht. Heute kann ich im Scherz sagen, dass ich ein verdammt schlechtes Mastkalb wäre.
Der letzte Schultag war eine Riesenerleichterung. Doch das jahrelange Mobbing hat Spuren hinterlassen. Am Anfang meiner Lehre zur Schreinerin war mein Selbstbewusstsein gleich null. Bei jedem Fehler habe ich gedacht, ich könne nichts. Noch heute kämpfe ich oft mit dem Gefühl, nichts wert zu sein. Es gab Zeiten, in denen ich nicht mehr leben wollte. Ich habe versucht, mich selbst etwas aufzufangen.
Nie ohne Geissen
Einerseits haben mich die Ziegen gerettet. Obwohl ich für meine Liebe zu unseren Geissen und der Zucht immer wieder gehänselt wurde, habe ich immer daran festgehalten. Ich könnte ohne Geissen nicht leben. Wir haben über 100 Tiere und verschiedene Rassen (Gämsfarbige Gebirgsziegen, Toggenburgerziegen, Bündner Strahlenziegen, Nera Verzasca, Anglo Nubian und Appenzellerziegen). 70 davon melken wir und verkaufen den Käse auf dem Märit in Bern. Wir nehmen recht erfolgreich an Ausstellungen teil und verkaufen Zuchttiere. [IMG 4]
Mein Ziel ist eine robuste Geiss mit 800 Liter Milch in 300 Tagen und einem guten bis sehr guten Fett- und Eisweissgehalt. Das Ziel wären eines Tages 3,5 Prozent bei beiden Werten. Mir sind Langlebigkeit, ein gutes Euter mit guten Zitzen und ein gutes Fundament wichtig. Meine Lieblingsrasse sind die Toggenburger. Das waren schon immer «meine». Sie sind etwas ruhiger und sehen einfach schön aus. Die langen blonden Haare sind schon etwas Besonderes. Ziegen sind neugierig, superschlau und haben immer gute Laune. Ich habe auch an Kühen Freude, aber die sind mir unter dem Strich fast zu ruhig. Das ist schwierig zu erklären …
Instagram und grosse Liebe
Ich habe dann auch angefangen, Bilder und Gedanken auf dem sozialen Netzwerk Instagram zu posten. Ich brauchte ein Ventil, etwas, das mir Bestätigung gibt. Am Anfang habe ich nur so posiert, dass man mich nicht erkannte. Irgendwann wollte ich mit meiner Geschichte raus. Früher wollte ich nie fotografiert werden. Heute ist es für mich normal.
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So richtig aufwärts ging es aber erst 2020, als ich meinen Freund Patrice kennenlernte. Wie es das Schicksal so wollte – über Instagram. Wir kannten uns zwar vom Sehen, weil seine Eltern und er auch Geissen züchten. Er hat mir schon immer gefallen, war aber vorher noch liiert und somit für mich tabu. Bei ihm konnte ich mich öffnen. Ich habe am ersten Date «purluteres» Wasser vor ihm geweint.
Ich weine sonst nicht vor anderen Leuten. Meine Mutter hat mich in den letzten fünf Jahren kaum einmal weinen sehen. Meine Eltern haben vom Mobbing aus der Zeitung erfahren, als Anfang Januar dieses Jahres ein Artikel im «Blick» über mich erschien. Ich wollte sie früher nie damit belasten. Beim «Buure» hat man immer genug anderes.
Verlustängste belasten
Für meinen Freund ist es nicht immer einfach. Ich habe auch nach zwei Jahren Beziehung Selbstzweifel und kann ihm nicht immer Vertrauen schenken. Es wird mit der Dauer der Beziehung nicht einfacher, wenn die Verlustängste nicht weggehen. Ich arbeite ständig an mir, aber diese Verletzungen sitzen tief und sind nicht einfach aufzulösen. Wenn ich später mehr als einen Lehrlingslohn verdiene, möchte ich mir professionelle Hilfe in Form eines Coachings holen.
Kalenderblatt zieren
Ich bin das April-Girl des diesjährigen Bauernkalenders. Das war ein langjähriger Traum von mir. Ich hätte nie gedacht, dass sie mich nehmen würden. Ich war schon glücklich, überhaupt zum Casting eingeladen zu werden.
Das Shooting war eine super Erfahrung. Am meisten hat mir die Kälte zugesetzt. Es war zwölf Grad, die Bise ging, und ich musste stets schauen, dass es mir das Oberteil nicht «wegluftet». Meine Familie und Freunde fanden es super und waren nicht sonderlich überrascht, denn mein Bruder war vor ein paar Jahren auch schon im Kalender.
«Mein Freund war nicht begeistert.»
Seine Freundin als Kalendergirl? Daran musste sich ihr Partner erst gewöhnen.
Mein Freund hingegen war nicht begeistert und hat mich gefragt, ob mir seine Bestätigung nicht reiche. Ich habe ihm dann erklärt, dass das ein Unterschied ist und man so etwas nur einmal im Leben macht. Nun ist er stolz auf das Resultat. Am ersten April haben mir viele Leute das Bild des Kalenders geschickt.
Erste Kooperationen
[IMG 2]Mittlerweile habe ich etwas über 2000 Follower(innen) auf Instagram. Wenn man sich das als Menschenmenge vorstellt, ist es schon krass. Am meisten Schub hat der «Blick»-Artikel gegeben, an einem Tag hatte ich über 200 Abonnenten und Abonnentinnen mehr. Ich bekomme fast ausschliesslich positive Rückmeldungen.
Falls einmal Kritik kommt, dann hat es meist etwas mit der Landwirtschaft zu tun, und ich kann es erklären. Mein Publikum ist eine Mischung aus landwirtschaftlich und nicht landwirtschaftlich. Instagram hilft auch dem Betrieb, wir hatten noch nie so viele Anfragen für Zuchtgitzi wie dieses Jahr, und die meisten kamen über diesen Kanal. Mittlerweile melden sich Firmen bei mir, die mit mir kooperieren möchten. Ich mache das gerne, wenn ich wirklich hinter einem Produkt stehen kann.
Kapitel abgeschlossen
Ich habe viele Zukunftspläne, möchte nach dem Lehrabschluss als Schreinerin sicher bauern, sei es auf dem Betrieb meines Freundes oder auch auf dem elterlichen Betrieb. Wir möchten jung übernehmen, jung eine Familie gründen. Auch die Bäuerinnenschule will ich noch machen.
Mit meiner Schulzeit habeich abgeschlossen. Mit den Leuten auch. Mein Freundeskreis stammt zum grössten Teil aus der Ziegenzuchtszene. Einige der Mobber(innen) haben sich inzwischen bei mir entschuldigt. Das freut mich, und so habe ich auch auf die Nachrichten ge-antwortet. Vorgeschlagene Treffen habe ich aber abgelehnt. Ich werde weiter daran arbeiten, diese Erfahrungen zu verarbeiten und hinter mir zu lassen. Das ist manchmal harte Arbeit, aber ich schaue vorwärts.
Schicksalsgeschichten: Erzählen Sie uns von Ihrem Leben!
Im Rahmen unserer Schicksalsserie lassen wir Personen mit bäuerlichem Hintergrund über schwierige und emotionale Themen sprechen, die unsere Leserschaft und Personen ausserhalb der Landwirtschaft beschäftigen. Dabei diskutieren wir Themen wie Generationenkonflikte, Fehlgeburten oder Todesfälle in der Familie. Aber wir möchten auch erfreuliche Erlebnisse teilen, so wie aussergewöhnliche Liebesgeschichten, Überraschungen im Stall oder Glücksfälle. Wir haben dieses Gefäss eröffnet, weil wir es wichtig finden, auch tabuisierte Themen anzusprechen und den Dialog darüber zu erleichtern.
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