Der Weinbauer Holger Herbst sitzt im Auto, ein Eis in der Hand, ein Lächeln im Gesicht. «Als ich heute Morgen früh auf dem Weg zu meinen Reben durch den Wald gefahren bin und die ganzen leuchtenden Farben und Blüten gesehen habe, stieg ich aus dem Wagen und juchzte vor Freude!» Herbst, der ehemalige Zahntechniker und Tänzer, ist ein Frühlings- und Sommermensch. Und dies, obwohl das mitunter die strengste Zeit im Weinbau ist.
Ein bunter Lebenslauf
Herbsts Werdegang zum Weinbauer ist unkonventionell. «Berufswunsch als Kind hatte ich eigentlich keinen. Zahntechniker habe ich gelernt, da meine Mutter meinte, ich sei manuell geschickt und mit Zähnen lasse sich Geld verdienen», lacht er. Bei diesem Beruf blieb er aber nicht lange.
Nach dem Lehrabschluss arbeitete Herbst noch zwei Jahre weiter und begann mit
24 Jahren die Ausbildung zum Sozialpädagogen. Nach dem Studium folgte ein anstrengender Job in der Flüchtlingshilfe. «Bei dieser Arbeit waren wir viel mit dem Krieg in Bosnien konfrontiert. Die ganzen Schicksalsschläge von Einzelpersonen und Familien haben mich irgendwann ausgebrannt», so Herbst rückblickend.
Eine ehemalige Freundin führte ihn wieder ans Tanzen heran, das er schon in seiner Jugend ausgeübt hatte. «Ich war als Kind nie sehr sportlich», erinnert sich Herbst. Von 13 bis 21 trainierte er dann aber intensiv das Bogenschiessen und kam mit 16 zufälligerweise in eine Jugend-Musicalgruppe. Dort lernte er den «Modern Dance» kennen. Danach übte er Tai Chi und tanzte argentinischen Tango.
«Nach der harten Arbeit in der Flüchtlingshilfe musste ich wieder etwas Gutes für mich tun und begann eine Tanzausbildung», fährt er fort. Da sich mit Tanzen alleine nicht sehr viel Geld verdienen liess, arbeitete er nebenbei weiter als Sozialpädagoge. Im Alter von 40 Jahren beendete seine tänzerischen Aktivitäten.
«Den Mut des Naiven»
2006 kam der Weinbau dazu. Als Kulturgut interessierte ihn der Wein schon lange: Schon als Jugendlicher war er jedes Jahr beim Herbstfest des Zürcher Weinlandes dabei. An einem Rebbaukurs im Jahr 2005 packte ihn die Lei-
denschaft endgültig und er beschloss, sich auf die Suche nach Rebland, das zu verpachten ist, zu machen – am liebsten am Schiterberg in Kleinandelfingen ZH, seiner Heimatgegend, oder am Zürichsee.
«Es war relativ schnell klar, dass es am Zürichsee keine Rebparzellen zu verpachten gibt – das geht alles unter der Hand weg. An diesem Punkt erinnerte ich mich zurück an die Zeit, als ich in den Achtzigern einmal am Schiterberg ausgeholfen hatte. Ich rief den betreffenden Rebbauern an und sagte, ich hätte Interesse, Reben zu pachten. Einen Monat später kam der Rückruf und kurz darauf eine Parzellenbesichtigung.» Und 2006 hatte Herbst an diesem Ort tatsächlich seine ersten Blauburgunder-Reben.
«Ein Kollege meinte einmal zu mir: ‹Du hast den Mut des Naiven!›. Das trifft tatsächlich auf viele Situationen in meinem Leben zu.» Dass Herbst die Parzelle am Schiterberg erhielt, war Glück. Der Weinbau begann für ihn als Hobby, aber es wurde schnell mehr daraus. «Ich bekam rasch Lust auf mehr Reben.»
Im Rahmen seiner anderen Arbeit als Leiter des Bereichs Betreuung einer grossen Primarschule in Zürich führte Herbst eine berufliche Standortbestimmung durch. «Dabei wurde für mich klar, dass mehr Reben zuoberst auf der Wunschliste standen», so Herbst nachdenklich. Doch dies brachte einiges an Konfliktpotenzial mit sich: «In meinem Kopf ist sofort eine Schere aufgegangen. Ich dachte mir: ‹Du bist zu alt, du hast nicht genug Kapital, mehr Reben bedeuten extrem viel Arbeit, und Geld bringt es auch keines. Spinnst du eigentlich?›» Er entschied sich jedoch, diese Schere nicht mehr zuzulassen und einfach mal zu schauen, was passiert.
«Wie machst du das?»
Und es lohnte sich. Durch einen Kollegen kam Holger Herbst 2014 zur Pacht einer Parzelle Grünem Veltliner in Trüllikon, 2016 übernahm er im nahegelegenen Truttikon, ebenfalls im Zürcher Weinland gelegen, 60 Aren Pinot Noir sowie 17 Aren der Rebsorte Müller-Thurgau. Dazu bepflanzte er 30 Aren neu mit Weissburgunder. Mit dieser Weinanbaufläche von 1,4 Hektaren gilt er mittlerweile als Teilerwerbs-betrieb. Momentan verbringt er drei Tage in der Woche mit Weinbau und drei im Büro bei der Arbeit als Bereichsleiter.
«Ich habe nie eine Winzer-Ausbildung genossen und glaube deshalb nicht, mehr zu wissen als Fachleute», so der 54-Jährige. «Am Rebkurs im Jahr 2005 hatte ich jedoch das Gefühl, ein Gespür für Reben zu haben. Dennoch fragte ich am Anfang jeden anderen Winzer auf dem Schiterberg ‹Wie machst du das›?» Auch später suchte Herbst ständig den Austausch mit Fachleuten oder informierte sich auf Winzer-Seiten im Netz. «Nach einer Weile habe ich jedoch gemerkt, dass es wie mit der Kindererziehung ist. Die Umsetzung ist auf verschiedene Arten möglich – irgendwas springt dabei immer heraus. Du musst nur entscheiden, welcher Weg für dich stimmt.»
Vom Hagel gezeichnet
Und Herbst fand seinen. Die Sortenwahl geht er beispielsweise sehr bewusst an. «Mich interessieren klassische Rebsorten. Blauburgunder finde ich etwas vom Lässigsten, was man an Wein trinken kann», sagt der 54-Jährige. Grüner Veltliner jedoch ist hierzulande eher unkonventionell – die Sorte ist hauptsächlich in Österreich angesiedelt. Er entschied sich pragmatisch gegen eine biologische Anbauweise: «Traditionelle Rebsorten sind anfälliger auf Pilzerkrankungen, daher wäre das heikel gewesen.» Dagegen sprach für ihn zudem, dass
beim biologischen Anbau gegen Krankheiten Kupfer verwendet wird, welches sich im Boden ansammelt und den Mikroorganismen schadet. «Bio heisst für mich, dass mehr, aber weniger effizient gespritzt wird», sagt Herbst.
Der Winzer versucht dennoch, seine Weine so natürlich wie möglich zu produzieren. So verwendet er kein Herbizid, kein Insektizid und nur teilweise synthetische Spritzmittel.
Damit ist er bislang gut zurechtgekommen – sogar im feuchten Jahr 2014, in welchem neben dem Falschen Mehltau auch die Kirschessigfliegen erstmals besonders aktiv waren. «Ich habe gute Erfahrungen mit Kaolin gesammelt, deshalb halte ich die Fliegen für ein händelbares Problem.»
Getroffen haben den Weinbauer jedoch die Wetterkapriolen des letzten Jahres – einerseits der Frost im April, aber vor allem der Hagel vom 2. August. In jener Nacht ist der Zürcher um drei Uhr nachts aufgewacht, hat den Regenradar gecheckt und gemerkt, dass es nicht nur Regen war. «Es hagelte nur eine halbe Stunde, aber das hat mich schwer getroffen.» Als er am nächsten Tag auf seinen Rebparzellen eintraf, sah er den vollen Schaden. «Das Laub lag zerstört am Boden. Es gab nichts mehr zu tun!»
Den Mut hat der 54-Jährige trotz dieses traumatischen Erlebnisses nicht verloren. «Ich freue mich, dass die Reben dieses Jahr so schön gedeihen.»
Natürlicher Lebensabend
Wein zu produzieren, ist hartes Brot – vor allem, wenn man von der Spedition bis zur Etikettengestaltung alles selber macht. Einzig das Keltern überliess Herbst bis 2016 Urs Pircher aus Eglisau ZH, seither erledigt dies der junge Weintechnologe David Erb aus Volken ZH. Herbst bringt aber seine Ideen aktiv ein.
«Finanziell gesehen habe ich vom Weinanbau noch keinen Profit. Ein Crowdfunding sorgte für ein gutes Startkapital. Im ersten Jahr fiel ich aufgrund aller notwendigen Anschaffungen natürlich ins Minus. Ein Kollege sagte mir jedoch, dass man sich, um Gewinn zu machen, mindestens fünf Jahre Zeit lassen muss.»
Geld ist für den Zürcher jedoch auch nicht der springende Punkt – man merkt ihm an, dass die Freude am Wein grösser ist. Auch wenn es körperlich harte Arbeit bedeutet. Der Schiterberg kann aufgrund der steilen Lage nur von Hand bewirtschaftet werden – bei hochsommerlichen Temperaturen kein gemütlicher Job. Bis er 70 Jahre alt ist, will Herbst weitermachen. Und anschliessend? «Den Lebensabend ausklingen lassen», lächelt Herbst. Am liebsten weiterhin mit möglichst viel Natur.
Weitere Informationen: www.herbst-wein.ch
Lara Aebi