Bald ist der letzte Alpkäse mit Jahrgang 2019 ins Tal gerollt. Es war eine gute Alpsaison, das Wetter spielte mit, es gab genügend Regen. Aber was erwartet die Älplerinnen und Älpler in Zukunft, wenn der Klimawandel die Bedingungen im Berggebiet verändert?
Die Temperatur bestimmt
Grundsätzlich ist die Pflanzenwelt in Berggebieten vor allem durch die Temperatur bestimmt. Sie definiert die Vegetation auf den verschiedenen Höhenstufen und damit auch die Baumgrenze. Wenn die Temperatur in den kommenden Jahren wegen des Klimawandels ansteigt, erwarten Forschende laut dem Bericht «Alpfutur» insgesamt positive Effekte auf die alpine Pflanzenwelt, also besseres und schnelleres Wachstum dank mehr Wärme und verlängerter Vegetationszeit. «Erst bei einer sehr grossen Erwärmung wird die Produktion geringer sein als heute», schätzen Pierluigi Calanca und Matthias Volk von Agroscope. Bei einer Erwärmung über zwei bis drei Grad werden laut «Alpfutur» voraussichtlich negative Effekte in Folge von Wassermangel überwiegen.
Regionale Unterschiede und Bemühungen zum Klimaschutz
Dabei sind regionale Unterschiede zu erwarten, wie sie bereits im Trockenjahr 2018 sichtbar wurden. Damals mussten Helikopter Wasser auf besonders betroffene Alpen etwa in den Kantonen St. Gallen, Glarus und Appenzell fliegen. Schliesslich wird auch die Temperatur in Folge des Klimawandels in der Schweiz nicht überall gleich viel ansteigen. Dies zeigen die Szenarien des National Centre for Climate Services (NCCS). Hinzukommt als entscheidender Faktor der Klimaschutz. Wenn die Ziele des Pariser Klimaabkommens erreicht werden, könnte die Erwärmung hierzulande nur halb so hoch ausfallen.
Frühere Schneeschmelze ermöglicht frühere Bestossung
Auch wenn es dieses Jahr anders war, wird man in Zukunft die Alpen wohl früher bestossen können. Tatsächlich passiert dies heute schon durchschnittlich 15 Tage früher als vor 30 Jahren, weil die Alpweiden früher schneefrei werden. Man geht davon aus, dass die Schneeschmelze bis Ende dieses Jahrhunderts im Durchschnitt 17 Tage früher einsetzen wird. Durch die verlängerte Vegetationszeit könnten typische Milchkrautweiden auf 1500 bis 2000 m. ü. M. etwa 77 Prozent an Pflanzenhöhe und 45 Prozent an Biomasse zulegen. Spätfröste können diese Vorteile aber wieder zunichtemachen. Denn sobald die schützende Schneedecke fehlt, ist die Kälte besonders verheerend.
Gewinner und Verlierer
Nicht alle Pflanzen profitieren gleichermassen von wärmeren Temperaturen. Studien haben gezeigt, dass Kräuter ihre Entwicklung besser an die neuen Begebenheiten anpassen können. Ausserdem bilden sie tiefere Wurzeln als Gräser und sind daher trockenheitsresistenter. Aus diesen Gründen könnte sich das Verhältnis von Gras zu Kräutern und damit die Futterqualität verändern.
«Es wuchern Pflanzen, die zu meiner Jugendzeit noch nicht auftraten.»
Erich von Siebenthal, Bergbauer und Präsident SAV
Wenn es oben wärmer wird, steigt auch die Baumgrenze. Allerdings ist die heute beobachtbare Baumgrenze im bewirtschafteten Alpenraum nicht die natürliche, wie Pierluigi Calanca und Matthias Volk erklären. «Eigentlich könnten Bäume etwa 200 Meter weiter in tiefere Lagen wachsen», so die Forscher. Man erwartet laut «Alpfutur» einen erhöhten Vergandungsdruck, eben weil neben Gräsern und Kräutern auch Bäume und Sträucher dank der Wärme besser wachsen. Der Aufwand zum Unterhalt guter Weiden wird also zunehmen. Die Autoren von «Alpfutur» empfehlen gemischte Weiden; Schafe, Ziegen und Kühe haben unterschiedliche Fressvorlieben. So nagen Engadiner Schafe und Ziegen die Rinde und jungen Triebe von Grünerlen ab und können so den problematischen Strauch ohne Stockausschlag zurückdrängen.
Die Praxis bestätigt die Theorie
Modelle und Studien sind mit Vorsicht zu geniessen. Sie arbeiten mit Annahmen und Durchschnittswerten und sind daher mit Unsicherheiten verbunden.
Dass sich etwas im Berggebiet verändert, das spürt man aber bereits heute. Dies bestätigt Erich von Siebenthal, Bergbauer und Nationalrat (SVP/Bern). Allerdings sind die Veränderungen, wie von der Wissenschaft vorausgesagt, nicht nur negativ, wie der Präsident des Schweizerischer Alpwirtschaftlichen Verbands (SAV) erklärt: «Solange genügend Feuchtigkeit da ist, beschleunigt die Wärme das Wachstum der Pflanzen und macht so die Weiden produktiver.» Zudem sind in der Tendenz mehr Weidetage möglich. Allerdings steige auch der Arbeitsaufwand, die tieferwurzelnden Kräuter können gerade bei Trockenheit besser von höheren Temperaturen profitieren als Gräser. Hinzukommt der zunehmende Druck von Sträuchern und Bäumen. Im Mittelland verspricht man sich von Agroforst-Systemen stabilere Erträge bei steigenden Temperaturen im Sommer. Mit demselben Gedanken werden auch Waldweiden bewirtschaftet, wo Vieh im Schatten von Bäumen grast. Von Siebenthal bezweifelt, dass Waldweiden in Zukunft eine Lösung im Berggebiet sein könnten. «Die paar Tannen machen kaum einen Unterschied in Sachen Feuchtigkeit, das ist nicht mit tieferen Lagen vergleichbar», meint er.
Nicht nur die Temperatur ändert sich
Folgende Veränderungen bringt der Klimawandel in den Alpen:
- Änderung der Pflanzengesellschaften
- Längere Vegetationszeit
- Frühere Bestossung möglich
- Produktivere Weiden
- Höherer Vergandungsdruck
- Mehr Aufwand beim Weideunterhalt
- Lokale Trockenheit
- Mehr Steinschlag
- Grösseres Waldbrandrisiko
Wildtierpopulationen scheinen zu wachsen
Mit der Wärme, Trockenheit und steigenden Baumgrenze nimmt auch das Risiko für Waldbrände zu. Erich von Siebenthal hat daher beim Bundesrat ein Postulat eingereicht, die aktuelle Strategie zu überprüfen. «2018 traten flächendeckend Probleme auf. Viele Alpgebiete liegen nahe oder im Wald und möglicherweise würden Löschflüge per Helikopter bei einem Brand nicht ausreichen», so der Bergbauer.
Auch Wildtiere reagieren auf die neuen Begebenheiten. Von Siebenthal hat den Eindruck, dass die Populationen zunehmen. Zudem sei das Wild im Hochsommer aktiver, weniger versteckt als früher. Gerade Gämsen könnten die zunehmende Gefahr von Steinschlägen noch verstärken, weil sie loses Geröll von den instabil gewordenen Hängen ins Rollen bringen. Auch Murgänge seien eine Herausforderung, der sich die Berggebiete stellen müssen.
Anpassen und Verbessern
«Gewisse Gebiete werden schwer zu halten sein, wenn das Verhältnis von Aufwand zu Ertrag nicht mehr stimmt», erklärt Erich von Siebenthal. Der Aufwand steige, gerade in der Weidepflege: «Es wuchern ungewollte Pflanzen, die zu meiner Jugendzeit in diesen Lagen noch nicht auftraten».
Der SAV-Präsident betont aber, man solle jetzt nicht in Hysterie verfallen; «Wir müssen lernen, mit den neunen Begebenheiten umzugehen.» Das heisst für ihn vor allem ein gutes Weidemanagement, damit eine Verbuschung verhindert wird und Unkräuter nicht überhand nehmen. «Es braucht genügend Tiere, ob Kühe, Ziegen oder Schafe ist zweitrangig», führt er aus.
Die Wasserversorgung wird zentral
Handlungsbedarf sieht von Siebenthal bei der Wasserversorgung der Alpen. Hier schlägt er vor, Regen von Dächern oder Schmelzwasser im Frühling in Zisternen zu sammeln. «Dafür muss es aber immer wieder regnen», gibt der Bergbauer zu bedenken. Noch heute seien die Böden ausgetrocknet und die Quellen nicht vollständig vom Hitzesommer 2018 erholt. Grundsätzlich sei er aber guten Mutes für die Zukunft. «Man muss konstant verbessern, was möglich ist und sorgfältig mit dem Quellwasser umgehen», schliesst er.
Auch Pierluigi Calanca und Matthias Volk glauben nicht, dass man die Alpwirtschaft wegen des Klimas aufgegeben muss; «Das hängt eher vom Markt und der Agrarpolitik ab. Wenn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gegeben sind, wird es die Alpwirtschaft in 50 Jahren noch geben».